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Die allerneueste Mitte

Berliner Agenda (1): Erstmals hat Rot-Grün gemeinsam wirklich Wahlen gewonnen.Das ist ein historisches Ereignis. Doch die linksliberale Modernisierung ist längst im Gang

Die Frage ist: Wie stark sind die Beharrungskräfte der angeblichso unbeweglichen Apparate der SPD

Es gibt Ereignisse, deren Dimension sich dem Beobachter aus der Nähe nicht sofort erschließt. Die packende Wahlnacht vom vergangenen Sonntag könnte ein solches Ereignis gewesen sein. Rot-Grün, so der Eindruck, ist mit viel Glück gerade noch davongekommen. Das ist zweifelsohne eine Wahrheit.

Die andere Wahrheit ist: Rot-Grün wurde eindrucksvoll bestätigt. Erinnern wir uns für einen Moment an das Jahr 1998. Alles war überlagert von der fälligen Abwahl des erschöpften Helmut Kohl. Kaum jemand rechnete wirklich mit Rot-Grün. Die Regierung Schröder/Fischer kam zufällig, fast irrtümlich an die Macht – als simple arithmetische Folge eines überraschend klaren Wahlerfolges, vor allem der SPD. Erst am vergangen Sonntag stand die Entscheidung an, ob die Republik auch bereit ist, sich sehenden Auges, bewusst für diese Regierungsformation zu entscheiden.

Dieser Test ging eindeutig aus. Erstmals hat Rot-Grün eine strukturelle Mehrheit erkämpft. Zusammen kommen SPD und Grüne auf 47,1 Prozent der Stimmen, verglichen mit dem Wert von 1998 – damals erreichten die beiden späteren Koalitionspartner 47,6 Prozent – ist das ein nur geringfügiger Verlust. Hinzu kommt: Da ein nennenswertes Segment der Wählerschaft Grün gegenüber Rot stärkte, können wir annehmen, dass hier nicht nur für „Rot-Grün“ gestimmt wurde, sondern sogar für „Rotgrün“. Dabei blieben die Sozialdemokraten auch noch stärkste Partei. Gerhard Schröder glückte es also, seine Partei zweimal hintereinander zur stärksten Fraktion im Bundestag zu machen. Dies war der Sozialdemokratie zuvor überhaupt nur einmal gelungen, 1972 unter Willy Brandt.

Nun könnte der Einwand vorgebracht werden, diese Mehrheit sei durch allerlei außergewöhnliche Faktoren zustande gekommen: Flut, Irak, die kampfstarken Alphatiere Schröder und Fischer, der triste Stoiber. Das stimmt schon alles auch. Aber was beweist das schon? Jede Wahl, ja jeder politische Prozess wird durch solche Elemente – oft entscheidend – beeinflusst. Würde man aber alles Gewicht auf derartigen Konkretionismus legen, kann man leicht jeden inneren Sinn aus allen politischen Prozessen herausinterpretieren. Rot-Grün hatte nicht Glück. Rot-Grün hatte Fortune. Die braucht es immer, damit Wirklichkeit wird, was im Horizont des Möglichen liegt: in diesem Fall eben die strukturelle Mehrheit für Rot-Grün.

Dass dies geschah, ist nun keine Kleinigkeit. Ob Rot und Grün „die Mitte“ der Gesellschaft repräsentierten, tatsächlich dem inneren Habitus der gegenwärtigen Bundesrepublik entsprächen, war während der vergangen vier Jahre nie ganz sicher. Der Selbstzweifel daran war im Handeln der Koalition auch immer zu spüren. Hat sie nicht ihre großen Gesellschaftsreformen – vom Staatsbürgerschaftsrecht über Zuwanderungsgesetz bis zur Homoehe – immer als „nachholende Modernisierung“ verkauft, als ob jede Regierung sie hätte durchführen müssen? Hier klang die stetige Furcht an, die Deutschen seien im Kern doch strukturell konservativ, würden nur in Ausnahmefällen und irrtümlich einer Mitte-links-Koalition zur Macht verhelfen.

Jetzt können Rote und Grüne ihrer Sache sicherer sein. Wird Rot-Grün am Ende doch noch zu einem „Projekt“? Das hängt davon ab, was man darunter versteht. Im Wort vom „rot-grünen Projekt“ klang immer der Wunsch an, die Gesellschaft umzukrempeln, nicht nur den Staat zu lenken – und damit auch eine leise Verachtung für die kleinen Ziele der herkömmlichen Parteienpolitik. Das große Abreißen, Umbauen, Gesellschaftsplanen steht sicherlich jetzt immer noch nicht an. Aber die „neue Perspektive“, die Formulierung eines Themas, „an dem sich die Geister scheiden“ (von Jürgen Habermas schon 1998 eingefordert), ist doch realistischer.

Immerhin hat sich erstmals erwiesen, dass die politischen Bilder und mehr noch die Vorstellungen, für die Rot-Grün stehen, mehrheitsfähig sind: ein postmaterialistischer Wertekanon, wenngleich auf gesicherter materieller Grundlage; ein vorsichtiges ökosoziales Umsteuern; ein lässiger Modernismus vis-à-vis der Strickjacken- und Kleinhäusler-Kultur der konservativen Vorstädte; Realismus in der Zuwanderungs- und Integrationspolitik; eine Bildungspolitik, die das Potenzial einer Gesellschaft nutzt, indem sie die Aufstiegschancen auch jenen öffnet, für die sie bisher verschlossen waren – dazu gehören beispielsweise die Kinder der Zuwanderer; ein Paradigmenwechsel in der Landwirtschaftspolitik, weg von der Alimentierung einer bäuerlichen Klientel hin zum Verbraucherschutz.

Dass die Grünen gestärkt aus dem Wahlsonntag hervorgehen, ist in jedem Fall ein ermutigendes Signal. Sie stehen im Besonderen für eine Ernsthaftigkeit im Umgang mit den Problemen des Gemeinwesens, gerade weil sie „nicht im engeren Sinn sozial gebundene Interessen“ (Axel Honneth) artikulieren – eine Ernsthaftigkeit, zu der die großen Volksparteien, die vielfältige Apparat- und Partikularinteressen austarieren müssen, gar nicht fähig sein können. Und wenn sie schließlich dafür belohnt wurden, dass sie stetig stellvertretend in aller Öffentlichkeit die moralischen Konflikte und die Lernprozesse austragen, zu denen moderne, interdependente und damit auch verletzbare Gemeinwesen gezwungen sind, dann darf dies die leise Hoffnung nähren, dass die Gesellschaft als ganze dem durchaus aufgeschlossen ist.

Die Grünen stehen für eine Ernsthaftigkeit im Umgang mitden Problemen desGemeinwesens

Und das sozialdemokratische „Milieu“? Zu fragen ist schon, wie stark die Beharrungskräfte der angeblich so unbeweglichen Apparate, der sozialdemokratischen Partei etwa oder der Gewerkschaften, tatsächlich sind. Schließlich existieren die auch nicht im luftleeren Raum, ja machen teils rasante Erfahrungsprozesse durch: etwa, wenn sie politische Bündnisse mit beweglichen zivilgesellschaftlichen Akteuren wie Attac eingehen und sich deren Politikstil anpassen. Dies führt zu einer stetigen Transformation sozialer Interaktionsformen, die nicht ohne Folge auf die Perspektive bleibt, aus der die Welt betrachtet wird.

Eine Art „Projekt“ linksliberaler Modernisierung vollzieht sich längst, teils hinter unserem Rücken. Dieser Prozess ist nicht immer eindeutig, das erweist auch der Blick auf vergleichbar erfolgreiche Mitte-links-Regierungen, etwa auf die britische: da werden Elemente klassisch „rechter“ Politiken, etwa in Fragen der inneren Sicherheit, gepaart mit einer bemerkenswerten neuen Wiederauferstehung klassisch sozialdemokratischer Themen (Blairs etatistischer Schwenk in Hinblick auf die öffentlichen Dienste und Schröders Antikriegskurs). Die Wähler sind bereit, das zu goutieren, ja sogar Fehler zu verzeihen, wenn die handelnden Akteure nur glaubwürdig machen, dass sie ernsthaft um eine Perspektive kämpfen. Dann haben auch die rechten Populisten wenig zu melden. Denn deren Stunde schlägt nur, wenn sich auf Seiten der Linken Ideenlosigkeit mit Zynismus und Kraftlosigkeit paart.

ROBERT MISIK

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