: Der Eskimo unter den Winzern
Auf dem Werderaner Wachtelberg, 30 Kilometer westlich von Berlin, steht der nördlichste Weinberg der Welt. Manfred Lindicke sorgt für gute Qualität in der Flasche, allen Unkenrufen zum Trotz. Zur Ernte fallen Heerscharen von Berlinern ein, um zu helfen
von CHRISTINE BERGER
Natürlich ist Berlin nicht Sibirien und auf der Havel schwimmen keine Eisberge. Dennoch fängt der gemeine europäische Winzer an zu frösteln, wenn er vom Weinanbau auf dem Werderaner Wachtelberg hört. Der angeblich nördlichste Weinberg der Welt auf 52[o]23’ nördlicher Breite hat es schwer, sich zu behaupten. Trotz Straußenwirtschaft, in der, wie es sich für die Jahreszeit gehört, ganz zünftig Federweißer, sechs verschiedene Weine und Brezen über die Theke gehen.
Dass aus Werder seit etlichen Jahren durchaus trinkbare Rebsäfte stammen (was man von den anderen Obstweinen nicht gerade behaupten kann), hat sich – Pfälzer und Badenser Schmäh zum Trotz – dennoch herumgesprochen. Hobbywinzer Manfred Lindicke, der seit Mitte der 90er-Jahre den Wachtelberg hegt und pflegt, kann sich jedenfalls über mangelnden Absatz nicht beklagen.
Ein bisschen suchen muss man schon, will man den Wein in Werder finden. Erst führt der Weg durch ein Plattenbauensemble hin zu einer postmodernen Wendesiedlung, um plötzlich in einer Haarnadelkurve steil bergan zu führen, hinauf in 58 Meter Höhe. Dort darf der Besucher staunen: In langen Reihen schwingen sich Rebstöcke über die sich plötzlich ausbreitende Hochebene. Ein starker Wind wirbelt feinen Sand auf, der den Hügel, ganz typisch für die Region, bedeckt. Weinanbau in der märkischen Wüste.
Unter den 27.000 Weinstöcken des Werderaner Haushügels befinden sich vornehmlich Müller-Thurgau, Saphira und Regent – Letztere zwei pilzresistente Sorten, was schon alles sagt über die Probleme mit der Feuchtigkeit am Ufer der Havel. Auch ein Weinlehrpfad weist den Weg. Fein säuberlich ist jede einzelne Rebsorte ausgeschildert, manche sind noch zu jung, um schon mit Erträgen zu protzen, andere wie der Chardonnay werden es in dieser Klimazone wohl nie zur Flaschenreife bringen. Aber egal.
Julia, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, versucht mit ohrenbetäubendem Ratschen, die Stare von den vollreifen Trauben zu verscheuchen. Mit mäßigem Erfolg. Immer wieder stürzen sich die Vögel scharenweise in den Weinberg und picken, was sie tragen können. Die 14-Jährige ist fast jeden Tag auf dem sechs Hektar großen Gelände. Wenn sie erwachsen ist, will sie „unbedingt was mit Wein“ machen. Ein ungewöhnlicher Berufswunsch in einer Stadt, in der sich alles um Tomaten und Kirschen dreht.
An diesem Wochenende geht es endlich ans Ernten. Berliner und Werderaner Weinfreunde kommen zu hunderten aus ihren Stadtquartieren, um gegen ein warmes Essen und ein paar Flaschen Wein den Buckel krumm zu machen. „Das ist immer ein richtiges Fest“, schwärmt Lindickes Tochter Katharina. Zwei Wochen vor dem Erntetermin hat sie einen Rundruf bei allen potenziellen Erntehelfern initiiert, die sich seit Jahren auf einer Liste um dieses Event drängeln. Die 27-jährige gelernte Hotelfachfrau bewirtschaftet nicht nur die Gastwirtschaft auf dem Berg, sondern managt mittlerweile auch das Geschäft mit dem Wein. Statt sich wie sonst um Vertrieb und Verkauf zu kümmern, schmiert Katharina Lindicke für die freiwilligen Erntehelfer Stullen, kocht Suppe und verteilt spezielle Scheren, mit denen die Reben abgetrennt werden.
Da die Lage weinrechtlich zum Anbaugebiet Saale-Unstrut gehört, wird der Wein im Landesweingut „Kloster Pforta“ in Bad Kösen gekeltert. Rund 35.000 Weiß- und 5.000 Rotweinflaschen gelangen von dort jedes Jahr auf dem Markt.
Versuche, in Werder Wein anzubauen, gab es schon vor achthundert Jahren. Wie so oft waren es Klosterbrüder – in diesem Fall die Zisterzienser –, die mit dem Alkohol aus Trauben experimentierten. Als dann auch noch die Kurfürsten der Hohenzollern, die ursprünglich aus Franken stammten, das Land übernahmen, gab es kein Halten mehr. Wein, Weib und Gesang gehörten von nun an auch im märkischen Sand zur Alltagskultur.
Mit Erfolg: Wein aus Werder war beliebt, weshalb Mitte des 18. Jahrhunderts von 192 Einwohnern 30 als Weinmeister arbeiteten und sage und schreibe über 200 Weinberge mit einer Fläche von rund 100 Hektar bewirtschafteten. Später, als der Alte Fritz dann von den Werderanern verlangte, Getreide statt Wein anzubauen, ging es mit dem Weinbau kontinuierlich bergab. Dank besserer Verkehrswege kamen zudem die Berliner zunehmend in den Genuss südländischer Weine und rümpften alsbald über die Qualität der regionalen Flaschen nur noch die Nase. Die Werderaner sattelten notgedrungen auf den Obstanbau um und versuchten es mit Tafeltrauben.
Und so könnte es bis heute sein, wäre da nicht Mitte der 90er-Jahre eine Delegation aus der Pfalz nach Werder gekommen und hatte den verwilderten Weinberg entdeckt. „Schämt ihr euch nicht?“, hieß es von den Landwirtschaftsexperten, und das wiederum ließen sich die Werderaner nur ungern sagen. Also stapfte der Obstbauberater Lindicke mit dem Bürgermeister über den Berg und – gesagt, getan, wurde die professionelle Bewirtschaftung des Hügels beschlossen.
Nun sind mit dem Weinanbau sogar Jobs entstanden und ein manierliches Endprodukt dazu. Der Müller-Thurgau jedenfalls hat bei der Weinprobe den Test bestanden, und sollte der 2001er Regent in die Jahre kommen, könnte daraus auch noch was werden. Vorausgesetzt, es gibt ihn noch: „Die Flaschen sind fast alle“, ist bei Lindickes ein häufig gebrauchter Satz. Viel ist es schließlich nicht, was der sandige Berg hergibt, und lokalpatriotisch sind die Werderaner außerdem. Sie trinken ihren Traubensaft eben am liebsten selber.
Werderaner Wachtelberg, Tel. (0 33 27) 4 46 70, www.wachtelberg.de.Anfahrt: Von Potsdam aus kommend die Potsdamer Straße Richtung Werder, dann links einbiegen in den Wachtelwinkel, am Reichelt vorbei, immer geradeaus vorbei an den Plattenbauten, dann scharf links die Straße steil hoch. Vom Parkplatz aus ca. 200 m Fußweg. Die Straußenwirtschaft „Tiene“ ist geöffnet bis zum 13. Oktober, Fr. ab 15 Uhr, Sa./So. ab 10 Uhr
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