normalzeit: HELMUT HÖGE über Existenzgründer in SO 36
Brüderliches Risiko-Sharing
Das „Advena“ (Der fremde Gast) war eine normale linke Kneipe in der Wiener Straße, bis der Besitzer Hürsel Simsek wieder eine Stelle als Erzieher annahm und Ali Karasahin mit seinem Bruder Bülent letzten Sommer das Lokal übernahm. Die beiden Ingenieure renovierten den Laden erst mal gründlich: Als Unternehmensberater konnte Bülent Karasahin für Investitionen aufkommen. Bis auf den Thekenbereich ist alles neu: Toiletten, Polstersitzbänke und eine floralflankierte Sitzecke. Der türkische Maler Yoldas gestaltete unaufdringlich die Wände. Auch die „mediterrane Küche“ ist neu: Es gibt jetzt Provencalisches Lamm und Menemen (gebratene Paprika und Tomaten mit Ei). Einmal wöchentlich wird eine Band – vornehmlich mit Jazz – aufspielen und daneben die beliebte Musikauflegerin Ipek einheizen. Sie hat ihre Auftritte im „SO 36“ reduziert – auf die schwul-lesbische Türkendisconacht „Gayhane“.
Die ehemalige Kiezmiliz- und Künstlermeile zwischen Oranienplatz und Spreewaldplatz hat sich nach Abzug der westdeutschen Touristen, die seit 1990 vornehmlich Mitte und Prenzlauer Berg ansteuern, sichtlich wieder erholt: diesmal mit türkischem und indischem Kapital! Den Anfang machten das „Kafka“ und das „Amrit“ – zwei Kreuzberger Projektemacherkneipen, die inzwischen selbst nach Mitte hin bzw. in den Sushi-Trend rein expandierten. Im „Kafka“ las einmal die kleine Tochter eines Gastes – Texte von Kafka. Und das „Amrit“ wurde anlässlich einer Kuttnerveranstaltung über Videoclips aus Bombay und Bitterfeld berühmt – weil seine Besitzer, zwei Brüder aus Bombay, dort „Bombaybomb“-Cocktails in den Pausen verkauften – und die verdiente Volksbühnen-Gardrobiere Gabi hinterher meinte: „So viel Betrunkene habe ich hier seit 1961 nicht mehr erlebt!“
Überhaupt verdanken sich hier viele Neueröffnungen bzw. Expansionen brüderlichem Risiko-Sharing. Das Spektrum der Neueröffnungen reicht vom kleinen Edelsupermarkt in der Manteuffelstraße bis zu einem riesigen Blumengeschäft. Und aus der ältesten Pizzeria des Problembezirks, „Samira“, ist über eine kurzzeitige spanische Bewirtschaftung ein echtes italienisches Restaurant geworden. Anfangs gehörte es – ebenso wie die „Stiege“ – einer Gruppe linker Palästinenser. Dort, nahe der Kneipe „Zum Mohr“ am Moritzplatz, hebt jetzt – ausgehend von einem afrikanischen Laden in der Dresdner Straße und dem Dritte-Welt-Zentrum in der Oranienstraße – ein afrikanischer Existenzgründungsschub an: von der ehemaligen Besetzerkneipe „Pinox“ bis zum „Mandela“ am Spreewaldplatz.
Am Görlitzer Bahnhof eröffnete das türkische Frühlokal „Linie 1“ und der kleine aber feine Friseur „Caprice“ – mit Freitagsnachtdienst. An der Wiener Ecke Lausitzer wich derweil die letzte proletarische Suff- einer türkischen Männerkneipe und diese wiederum einer Bar für den internetten Amüsierpöbel, der sich durch eine Billigpension der Mitwohnzentrale Wiener Straße touristisch wieder angereichert hat. Davon profitiert nun auch das neue „Advena“, das am 5. Oktober eröffnet. Vis-à-vis hat sich bereits die Feuerwehrwache hübsch gemacht: mit einer flammendgelb bis -roten Fassade – von einem Künstler mit ABM-Kraft gestaltet.
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