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vorlaufAus Stalins Archiven

„Tödliche Falle“

(Mi., 2. 10., 23.30 Uhr, ARD)

Reinhard Müller, Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung, zählt zu den entschiedendensten Rechercheuren in alten sowjetischen Archiven. Er kennt sich schon deshalb aus, weil er die realsozialistischen Gepflogenheiten in puncto Verschweigen und Tarnen als Fellow dieses Systems kennen lernen konnte. Der SPD-Spitzenpolitiker Herbert Wehner, selbst einst Kommunist, ist sein Lieblingsobjekt. Was machte der Mann bis in die Vierzigerjahre hinein, bevor er zum Sozialdemokraten an der Seite Willy Brandts wurde? Im stalinistischen Horrorjahrzehnt zuvor hielt er sich vornehmlich in Moskau auf, in der Ljubjanka, dem Gefängnis- und Folterzentrum der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU).

Früher hatte Wehner stets erklärt, dort selbst ein Opfer der intriganten Umstände am Hofe Stalins gewesen zu sein. Der Historiker Müller hat mit Hilfe von russischen Geschichtswissenschaftlern und bisher geheimen Akten herausgefunden, dass dieser mehr Schuld als nötig auf sich geladen habe: Denn Wehner selbst hat Spitzelberichte verfasst, die zum Tod zahlloser deutscher Kommunisten in der Sowjetunion führten.

Der Film „Tödliche Falle“, eine Dokumentation von Inga Wolfram, die sie mit Reinhard Müllers Forschungsergebnissen anfertigte, versucht nun ebendies auch mit Bildern aus Moskau zu klären: dass Wehner mehr Dreck am Stecken habe, als er einzuräumen bereit war. Der Spiegel lobt die Recherchen und den Film sehr – Wehner noch dubioser als eh schon gedacht.

Doch diese Dokumentation verfehlt, wie jeder andere Filmbeitrag zu diesem charismatischen Nachkriegspolitiker der SPD, die entscheidende Pointe, die heutzutage überhaupt noch an einer Person wie Herbert Wehner interessant sein kann: Was passierte in den Jahren zwischen 1941 und 1945, als er in Schweden, zunächst auf Geheiß der Komintern, „umgedreht“ wurde: Was machte ihn abtrünning? Opportunismus? Beginnender Unglauben an die große Erzählung namens „Sozialismus“? Der Wille zum Überleben? Gedankenfaulheit?

Wie geht, sozusagen, der Übergang vom funktionstüchtigen Ideensoldaten zum Demokraten? Der Film hat an solchen Fragen offenkundig gar kein Interesse: Wie lösen sich Menschen vom Verschwörungs- oder Erlösungsglauben? Man wartet stattdessen mit Sensationellem auf – und das exzellent aufbereitet. Horrible Aktenbelege. Aber: Wofür nutzt dieses Wissen? JAN FEDDERSEN

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