: Studieren im anderen Ground Zero
An der Universität Kabul, einer einst renommierten Institution, beginnen Studierende und Professoren mühsam mit ihrem Studium. Eine Stunde null: Es gibt kaum Labors, die Bücher sind veraltet, die Bibliothek ist halb geplündert, halb abgebrannt
aus Kabul SVEN HANSEN
„Im Vergleich zur Zeit der Taliban hat sich hier an der Uni eigentlich noch nicht viel verändert“. Der 27 Jahre alte Medizinstudent Mohammed Nasir von der Universität Kabul klingt illusionslos. „Zwar dürfen auch wieder Frauen studieren, und wir haben mehr Freiheiten. Aber die materielle Situation der Fakultät hat sich überhaupt nicht verbessert.“ Keine funktionsfähigen Labors, völlig veraltete Lehrbücher, die Bibliothek ist halb geplündert und halb ausgebrannt. Kürzlich haben ausländische Regierungen zwar einige Bücher überreicht. Aber, so Nasir, „die sind auf Englisch. Jetzt müssen wir erst mal Englisch lernen.“
Zwei in Burkas gekleidete Studentinnen betreten das medizinische Institut. Beim Passieren des Pförtners schlagen sie das hellblaue Tuch hoch und tauschen dann im Gebäude den Ganzkörperschleier gegen ein Kopftuch ein. Alle Studentinnen machen das so. Wer als männlicher Besucher mit ihnen über ihre Situation sprechen möchte, wird meist wortlos abgewiesen. Mit einem Fremden zu sprechen, gehört sich für afghanische Frauen nicht.
Die 20 Jahre alte Sultana, die in der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät allein mit ihrer Freundin wartet, ist nach anfänglichem Zögern bereit zum Gespräch. Sie möchte allerdings nicht ihren vollen Namen nennen. „Ich studiere Wirtschaft im ersten Semester“, sagt sie. Eigentlich habe sie Jura und Politik studieren wollen. Doch für das nach Medizin beliebteste Fach, das es in Afghanistan nur im Doppel gibt, sind gute Noten Voraussetzung. „Leider habe ich bei der Aufnahmeprüfung nicht so gut abgeschnitten, so dass ich bei den Wirtschaftswissenschaften gelandet bin“, sagt sie. Bis zum Januar lebte sie mit ihrer Familie in Pakistan, wo sie auch die Hochschulreife erwarb. „Jetzt möchte ich Geschäftsfrau werden“, sagt sie. „Vielleicht bekomme ich doch noch einen Job in der Regierung.“
Immer wenn Sultana ihr mit schwarzen Perlen besticktes Tuch vom Kopf rutscht, schiebt sie es peinlich berührt wieder zurück. „Ich bin die einzige Person aus meiner achtköpfigen Familie, die je studiert hat“, sagt sie nicht ohne Stolz. In ihrer schwarzen Handtasche mit dem goldenen Namenszug des Tokioter Nobeleinkaufsviertels Ginza trägt sie ihre zusammengefaltete Burka. „In meinem Kurs sind zehn Frauen und fünfzehn Männer. Die Männer im Kurs sind anständig, weil die Professoren auf die Einhaltung der Regeln achten. Aber auf dem Campus gibt es noch Kommilitonen, die nicht wollen, dass wir Frauen studieren. Manche starren uns an.“
Die ersten Monate habe sie überhaupt keine Lehrbücher bekommen. „Wir mussten alles selbst mitschreiben“, sagt sie. An einem Computer habe sie auch noch nie gesessen. Doch laut Sultana sind die mangelnden Transportmöglichkeiten für die Studierenden das größte Problem. „Ich muss bereits um sechs Uhr morgens das Haus verlassen und brauche dann bis zur Uni über eine Stunde“, klagt sie. Sie wohnt bei ihren Eltern in einer Plattenbausiedlung etwa zehn Kilometer entfernt. In Kabul gibt es keinen verlässlichen öffentlichen Nahverkehr. Die wenigen Busse, die den Krieg überlebten, sind chronisch überfüllt und fahren viel zu selten.
Amanullah Ajubi muss nicht täglich um einen Platz im Bus kämpfen. Der 26-Jährige, der gerade die Abschlussprüfungen seines Medizinstudiums absolviert, wohnt im Studentenwohnheim direkt auf dem Campus. Wohnheimplätze gibt es nur für Männer. „Wir schlafen zu sechzehnt in einem Zimmmer. Es kostet nichts, auch die Verpflegung ist kostenlos, aber sehr schlecht. Zu essen gibt es immer das Gleiche: Reis und Gemüse.“
Ajubi musste sein Studium mehrfach unterbrechen. „Als ich hier vor sieben Jahren zu studieren begann, wurde auf dem Campus geschossen“, sagt er. Während der Machtkämpfe der Mudschaheddin verlief die Frontlinie zeitweilig durch das Universitätsgelände. Einige Institutsgebäude wurden zerstört, doch im Vergleich mit der Umgebung im Westen Kabuls, wo fast nur noch staubige Ruinen stehen, wirkt das in den 60er-Jahren mit amerikanischer Hilfe großzügig angelegte Universitätsgelände schon wegen der zahlreichen schattigen Bäume wie eine Oase. Trotzdem trägt der Wächter am Haupteingang zum Campus noch heute eine Kalaschnikow.
Die 1946 gegründete Universität Kabul, eine von insgesamt sechs Hochschulen des Landes, war einst das intellektuelle Zentrum Afghanistans und eine renommierte Bildungseinrichtung. Sie arbeitete mit Hochschulen in den USA, Frankreich, Deutschland und Ägypten zusammen.
„Die letzten Jahre hat sich hier viel verändert. Als die Taliban kamen, wurde die Uni für vier Monate geschlossen, die Wohnheime sogar für zwei Jahre. Als die Uni wieder öffnete, waren einige Studenten geflohen, andere getötet. Studentinnen wurde der Unterricht verboten, es gab auch keine Professorinnen mehr. Wir männlichen Studenten mussten einen Turban tragen und lange Bärte haben, Musik wurde verboten“, berichtet Amanullah Ajubi. „Ich habe keine guten Erinnerungen an die letzten sieben Jahre. Jetzt fühlen wir uns frei, und die Studentinnen sind zurückgekehrt. Es ist ihr Recht zu studieren.“
Mit der neu gewonnenen Freiheit sei es allerdings auch nicht so weit her, meint Ajubi einschränkend. So sei etwa zur Jahreswende das Studentenwohnheim durchsucht worden. „Der Geheimdienst suchte Material der Taliban, von al-Qaida und vom Islamistenführer Gulbuddin Hekmatjar. Besonders Paschtunen hätten Leibesvisitationen über sich ergehen lassen müssen. Erst die internationale Friedenstruppe Isaf stoppte die Durchsuchungen.“
Ajubi hofft nach seinen letzten Prüfungen auf eine Stelle in einem staatlichen Krankenhaus. Dafür muss er sich beim Gesundheitsministerium bewerben. Doch wie früher gelte: „Bevorzugt eingestellt werden Leute mit Beziehungen.“
Kabuls Universität war Tummelplatz von Nationalisten, Kommunisten und Islamisten. Sie radikalisierten und polarisierten die Atmosphäre auf dem Campus schon Ende der 60er-Jahre. Nach ihrer Machtübernahme 1978 verprellten die Kommunisten zunächst westliche Dozenten und Professoren. Später flohen auch viele einheimische Lehrkräfte ins Ausland. Weil viele männliche Studenten zum Militärdienst mussten, stieg in den 80er-Jahren der Frauenanteil auf 70 Prozent.
1996 warfen die Taliban die Frauen dann hinaus und führten ein islamistisches Curriculum ein. Als an der Universität mit ihren 14 Fakultäten das diesjährige Sommersemester begann, stieg die Zahl der Studierenden nach Angaben des Universitätspräsidenten auf 6.286 (davon 965 Frauen) und damit auf über das Doppelte der letzten Jahre. Unter den 4.006 Neuzugängen für das insgesamt kostenlose Studium sind 841 Frauen.
Eine von ihnen ist Farusan Assisi. Die 22-Jährige studiert im ersten Semester Dari, eine der zwei Hauptsprachen Afghanistans. „Ich hoffe auf ein friedliches Umfeld für mein Studium“, sagt sie. Assisi träumt davon, Schriftstellerin zu werden. Während sie dies erzählt, läuft vor dem Fenster eine britische Majorin der internationalen Friedenstruppe Isaf mit dem Gewehr im Anschlag vorbei. Auf das Kommando der unverschleierten weißen Frau im tarnfarbenen Kampfanzug hören acht Männer, die über das Unigelände patrouillieren. „Es mangelt an allen Ecken und Enden“, sagt Assisi nach einer Pause. „Wir haben nicht einmal Tische und Stühle.“ Auch sie beklagt fehlende Lehrbücher und Transportmöglichkeiten, im Winter seien die Räume unbeheizt. Assisis Studium finanziert ihr im Iran lebender Bruder. In ihrem Semester seien Männer und Frauen gleich stark vertreten, sagt sie, weshalb es auch keine Probleme gebe. Die Professoren sind allerdings alle Männer.
Mohammed John Naseri ist Physikdozent. Der 55-Jährige klingt frustriert. „Im Vergleich zur Zeit vor den Taliban hat sich nicht viel verändert. Jetzt können zwar die Frauen wieder studieren, aber wir bekommen nicht mehr Geld. Wir können überhaupt nichts reparieren.“ Für Naseri war die Zeit unter dem 1973 gestürzten König Sahir Schah und seinem 1978 ermordeten Vetter und Nachfolger Mohammed Daud die Blütezeit der Universität Kabul. „Heute haben wir keine Labors, unsere praktische Arbeit ist gleich null. Wir haben keinen elektrischen Strom, doch ohne den können wir in der Physik eigentlich gar nichts machen.“
Dann stellt er seinen Freund vor, den Mathematikprofessor Mohammed Anwari Rodi. „Er ist der beste Mathematiker in Afghanistan“, sagt Naseri über den weißbärtigen Professor. Auf die Frage, wie viel er denn verdiene, sagt dieser beschämt: „Umgerechnet 65 Dollar im Monat.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen