: Der Auftrag: „Ich“
Nestwärme-Postrock im Schlachthof: Bei Tocotronic wird das Stage-Diven zur Vertrauensübung
Schön warm: „Ich bin drei Schritte vom Abrund entfernt.“ Schrammel-Gitarrenteppich. Gibt es ein Fremdwort für „Gitarrenteppich“? Tocotronic würden es in ihr Bandinfo schreiben, hinter die Passage von der „regressiven Affirmation“. Oder einen Refrain daraus machen, vorausgesetzt, in diesen Refrain passte noch das Wörtchen „Ich“.
„Ich“ ist bei Tocotronic ein riesig großer kleinster gemeinsamer Nenner. Wegen „Ich“ sind sie alle an diesem Abend in den Schlachthof gekommen. Ein bisschen „Wir“, zwei Stunden, das reicht. Denn eigentlich, und das wissen sie alle hier, eigentlich ist der große Auftrag: „Ich“.
Tocotronic auf Tourstart in Bremen, es gibt eine neue Platte und es gibt alte Hits, vor allem gibt es Fans, die beides kennen. Fans, die zu gleichen Teilen weiblich und männlich sind und gebeutelt von einem gewissen Hang zur Reflexion. Optimal, die Tocotronic-Mischung von Härte und Schmalz, von Aufstand und Resignation: „Ich glaub‘ nicht daran, dass ich nochmal umkehren kann“. Noch optimaler, wenn es endlich kommt, das „Wir! sind! raus! ... und wir sind stolz darauf.“
Das Ganze ist härter als auf CD, Tocotronic rocken. Gemischtgeschlechtlicher Pogo, dann geht das Stage-Diven los: Keine brutalen Ordner, keine Besinnungslosigkeit, nur Fans mit Abitur, die sich von der Bühne weg vorsichtig den ausgestreckten Armen der Zeitgenossen übergeben und dann ebenso vorsichtig über die Köpfe hinweggehoben werden. Eine Vertrauensübung. Aus den Boxen dazu die eigentlich irgendwie ironisch gebrochenen Zeilen: „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein ... ich möchte mich auf euch verlassen können.“
Ein nettes Konzert, gut gemacht und zutiefst harmlos. Punk und Melancholie vermählen sich zum Gruppenerlebnis. Schön warm.
Klaus Irler
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