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Mehr als nur ein Binnenmarkt

Nur vier von 28 Regierungsvertretern wollen im Konvent darüber diskutieren, ob die Wirtschaftsunion nicht auch gemeinsame soziale Standards braucht

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Im Konvent zur EU-Reform sitzen Berufspolitiker – und ein paar Berufspolitikerinnen. Eigentlich müsste es aber einen zusätzlichen Platz geben mit dem Namensschild „Eurobarometer“. Denn der Bürgerwille in seiner von Meinungsforschern in Prozentzahlen gegossenen Form sitzt immer mit am Tisch.

Eurobarometer hat gezeigt, dass die Bürger eine außenpolitisch starke Union wollen. Umfragen belegen, dass die Bürger eine Grundrechtecharta befürworten. Auch die Erwartung, die EU solle für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen, lässt sich statistisch messen. In den Umfrageergebnissen von Eurobarometer und – viel objektiver – in der Arbeitslosenstatistik. „Arbeitslosenquote der Eurozone unverändert bei 8,3 Prozent“, titelte Eurostat in seiner letzten Ausgabe.

Um die „soziale Frage“ kann sich der Konvent also nicht drücken. Das mächtige Präsidium hat zwar alle Taschenspielertricks aufgeboten, um diese Diskussion zu verhindern. Denn ein konsensfähiges Endprodukt kommt nur zu Stande, wenn die Vertreter der Regierungen mit von der Partie sind. Diese aber wollen in ihrer Mehrheit verhindern, dass der Konvent ein starkes Bekenntnis zum Sozialstaat abgibt, Vollbeschäftigung als Politikziel in die Verträge schreibt oder gar fordert, die Sozialstandards in den Mitgliedsstaaten auf höchstem Niveau anzugleichen.

Die Blockade geht quer durch die Parteien. Die New-Labour-Chefs Schröder und Blair wollen sich genauso wenig in die Pflicht nehmen lassen wie der spanische Konservative Aznar oder die skandinavischen Regierungen. Mehrere Europaparlamentarier im Konvent haben vergangene Woche einen Vorstoß gestartet, die soziale Frage in einer Konventssitzung zu debattieren und eine Arbeitsgruppe dazu einzurichten. Auf der Unterstützerliste finden sich nur Vertreter von vier Regierungen: der belgischen, der französischen, der bulgarischen und der rumänischen.

Der deutsche Regierungsvertreter Peter Glotz, dessen Name zunächst auch auf der Liste gestanden hatte, dementierte später, die Initiative zu unterstützen. Das sei „nicht die Position der Bundesregierung“. Tatsächlich hat Deutschland schon zu Kohl-Zeiten französische Initiativen blockiert, auf EU-Ebene für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Dahinter steckt die Furcht des Nettozahlerlandes, künftig auf dem Umweg übers Brüsseler Budget defizitäre Sozialversicherungen in ärmeren EU-Ländern mitzufinanzieren.

Die Briten wiederum wollen sich – ähnlich wie Spanier und Italiener – nicht in ihre hausgemachte Sozialpolitik hineinreden lassen. Wenn – wie zum Beispiel die PDS-Europaabgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann fordert – künftig die besten nationalen Beispiele zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Finanzierung sozialer Sicherung Modellcharakter für die anderen EU-Länder bekommen sollen, wäre das britische Gesundheitssystem ein Auslaufmodell.

Artikel zwei des EU-Vertrags nennt in seiner heutigen Form „Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts und eines hohen Beschäftigungsniveaus und nachhaltige Entwicklung“ als Unionsziel. Der Weg dorthin führt – laut Vertrag – über einen starken Binnenmarkt mit starker Einheitswährung.

Diesen marktwirtschaftlichen Blickwinkel halten die 45 Unterzeichner, die eine Arbeitsgruppe „Soziales Europa“ wollen, für zu eng. „An die Stelle kurzfristiger Renditeorientierung muss die soziale und ökologische Nachhaltigkeit wirtschaftlicher Entwicklung treten“, schreibt Kaufmann in ihrem Konventspapier „Ein Verfassungsvertrag für ein soziales Europa“. Und ihr grüner EP-Kollege Johannes Voggenhuber betont, dass Europa eine Wertegemeinschaft sei, nicht bloß ein florierender Binnenmarkt.

Auch die Arbeitsgruppe „Ordnungspolitik“, die – vom sozialdemokratischen Europaabgeordneten Klaus Hänsch geleitet – das soziale Thema am Rande mit abhandeln sollte, steckt inzwischen an dieser Grundfrage fest. In ihrem Arbeitsschwerpunkt zielt diese Gruppe deutlich auf die Frage, wie die Wirtschaftskraft Europas weiter gestärkt, die finanzpolitischen Instrumente aufeinander abgestimmt, die Steuerpolitik harmonisiert werden kann. Eine Einheitswährung – so die Grunderkenntnis – braucht auch die zugehörige abgestimmte Politik.

Eine starke Minderheit in der Gruppe teilt aber nicht die Überzeugung, dass die EU nur ein boomender Binnenmarkt mit starkem Euro werden muss, damit wieder alle Arbeit finden. Sie wollen eine „wirtschaftspolitische Koordinierung“, die Sozial- und Beschäftigungspolitik einbezieht. Möglicherweise setzt sich nach den Erfahrungen in Hänschs Arbeitsgruppe auch im Präsidium des Konvents die Erkenntnis durch, dass die soziale Frage sich nicht als Randnotiz in ein paar Sonntagsreden abhandeln lässt. In der Sitzung Anfang November wird es wahrscheinlich eine Plenardebatte dazu geben. Sollte zusätzlich eine Arbeitsgruppe eingerichtet werden, könnte die Hänsch-Gruppe das Thema beiseite lassen.

Eigentlich – so sollte man meinen – müsste die starke sozialistische Politikfamilie im Konvent sicherstellen, dass die soziale Frage nicht unter die Räder kommt. Ein Drittel der Konventsmitglieder gehört sozialistischen Parteien an, wie ein gestern vorgelegtes Grundsatzpapier stolz vermerkt. Der Inhalt allerdings gibt wenig Anlass zu Optimismus. Auf vier dürren Seiten werden die bekannten frommen Wünsche – Transparenz, Nachhaltigkeit, sozialer Zusammenhalt – in allgemeinster Form ein weiteres Mal zusammengefasst.

Weitere Verbündete dürfen die 45 Befürworter einer Arbeitsgruppe „Soziales Europa“ also nicht bei den Sozialisten suchen. Dafür sind viele Konservative mit von der Partie – vor allem die Unterstützung der neuen französischen Regierung hat erhebliches Gewicht. Und dann – das zählt vielleicht am meisten – sitzt ja noch das Konventsmitglied Eurostat in der Runde. Die nächste niederschmetternde Arbeitsmarktstatistik kommt Anfang November, gerade rechtzeitig zur Konventssitzung.

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