: Einladung zum Blind Date
Wo das Auge mal nicht mitisst: In der Unsicht-Bar in Mitte tafelt man in völliger Dunkelheit. Begründet wurde das Restaurant vom Berliner Blindenverein. Die sehbehinderte Bedienung hilft dem Gast, sich an die ungewohnte Esssituation heranzutasten
von TOBIAS HÜLSWITT
Mit Originalität gespart wurde nur am Namen des Restaurants, das sich in der Gormannstraße 14 in Mitte befindet: Unsicht-Bar. Dafür aber passt er. In vollkommener Dunkelheit werden dem Gast dort Speisen und Getränke serviert, und in vollkommener Dunkelheit nimmt er sie zu sich – oder versucht es zumindest.
Aber der Reihe nach. Im Foyer empfangen den Gast gedämpftes Licht und eine Rezeptionistin, die alles erklärt. Er wählt ein Menü aus der an der Rezeption ausliegenden Speisekarte, dann wartet er zusammen mit anderen Gästen am Eingang der „Lichtschleuse“, während die Rezeptionistin Bestellungen inklusive Tischnummern telefonisch an die Küche durchgibt. Kurz darauf erscheint ein/e KellnerIn, in unserem Fall Ute. Ute ist sehbehindert. Da die Unsicht-Bar von zwei Geschäftsführern des „Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin“ initiiert wurde, werden ausschließlich Blinde und Sehbehinderte als KellnerInnen eingestellt.
Ute bringt die Gäste in die Lichtschleuse, einen um mehrere Ecken führenden Flur, in dessen Beginn noch etwas Licht sickert, an dessen Ende jedoch absolut nichts mehr zu sehen ist. Wie eine kleine Elefantenfamilie folgen die Gäste, jeweils die linke Hand auf der Schulter des Vordermannes, der Kellnerin Ute, die ihre Schützlinge beruhigt: „Nein, es kommt keine Treppe.“
Anfangs ist die Beklemmung groß. Utes Versprechen, immer in der Nähe zu bleiben, will noch nicht wirklich helfen. Was, denkt der Gast, wenn es einen Notfall gäbe? Was, wenn er alleine hinausfinden müsste? Doch dann, nach einer Weile, löst sich die Beklemmung. Erstens, denkt er, wenn es brennen würde, hätte er ja wieder Licht. Zweitens scheint Ute alles im Griff zu haben: Sie erklärt dem Gast die Regeln des Essens im Dunkeln, und der fasst Vertrauen. Und drittens gibt es eine kleine Panne, bei der durch eine Türöffnung für eine Sekunde Licht hereindringt und beweist, dass der Ort ganz real ist und Anschluss ans Draußen hat.
40 auf 15 Meter groß sei der Raum, sagt Ute, oder besser: der Saal. Zwischen den Menü-Gängen nimmt sich Ute Zeit. Erzählt von diesem ihrem neuen Job, den sie erst seit acht Wochen macht. Eine Woche habe sie vor der Eröffnung der Unsicht-Bar hier drinnen trainiert, bis sie alle Abläufe im Dunkeln beherrschte. Ihre Sehbehinderung erlaubt es ihr, sich im Tageslicht mit den Augen zu orientieren, aber sie sieht die Dinge, sobald sie nur wenig entfernt sind, nur schemenhaft. „Manche Leute halten mich für arrogant, weil ich sie auf der Straße nicht grüße.“ Die Dunkelheit bringt Gäste und Bedienung einander näher, als es in gewöhnlichen Restaurants der Fall ist. Schnell wird klar: Dies soll mehr als ein ungewöhnliches Ambiente sein, mehr als der letzte Schrei in Mitte. Dies soll ein Ort sein, an dem sich Sehende ein Stück weit in das Leben Blinder einfühlen können. Ein Ort, den man später als Klangkulisse statt als Bild erinnert. Ein Ort der Begegnung.
Zugegeben, der soziale Aspekt wiegt womöglich etwas zu schwer. Wer dürfte diesen Ort nicht mögen, bei so viel guten Zwecken? Einen anderen handfesten Grund, ihn zu meiden, könnten einem bestimmtem Publikum die Preise liefern: Je nach Menü und Anzahl der Gänge zwischen 35 und 50 Euro pro Person, Getränke extra. Schade eigentlich, denn gerade StudentInnen könnten den schwarzen Saal beleben, der an diesem Abend eher bescheiden besucht ist.
Nach zwei Stunden möchte der Gast trotzdem gar nicht mehr gehen. Eine große Entspannheit, erholsame Müdigkeit hat ihn überkommen, und er weiß, eine solche Dunkelheit wird er so schnell nicht wieder zu sehen bekommen. Als er schließlich doch draußen ist und ins Licht des Foyers blinzelt, sieht er Ute wieder – und ist erstaunt. Obwohl er sie ja schon vorher gesehen hatte, hatte sich sein Bild von ihr vollkommen verändert.
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