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Blair vor einem Scherbenhaufen

Nordirlands vier Jahre alte Autonomieregierung steht vor dem Zusammenbruch. Der Grund: Vorwürfe über IRA-Infiltration. Unionisten fordern Auflösung der IRA – deren politischer Arm Sinn Féin warnt vor einem Scheitern des Friedensprozesses

aus Dublin RALF SOTSCHECK

Nordirlands Premierminister, der Unionistenchef David Trimble, hat ein Ultimatum gestellt: Entweder beantragt die britische Regierung bis Dienstag den Hinauswurf Sinn Féins aus der Mehrparteienregierung oder die Unionisten steigen aus der Regierung aus. Da beide Optionen dem nordirischen Friedensprozess schweren Schaden zufügen würden, wird der britische Premierminister Tony Blair die nordirischen Autonomieinstitutionen wohl noch in dieser Woche auflösen.

Die Unionisten werfen dem militärischen Flügel Sinn Féins, der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), vor, einen Agenten ins Regierungsgebäude Stormont eingeschleust zu haben. Der soll Protokolle von Gesprächen zwischen Blair und seinem Nordirlandminister John Reid sowie die persönlichen Daten von Gefängnisaufsehern und Polizeibeamten fotokopiert haben. 200 Polizeibeamte durchsuchten am Freitag im Morgengrauen die Parlamentsräume sowie zahlreiche Büros Sinn Féins in Belfast und beschlagnahmten hunderte von Dokumenten. Blair soll in einigen Papieren mit dem Codenamen „Naiver Idiot“ belegt worden sein. Vier Personen wurden verhaftet, gegen drei davon wurde Anklage erhoben wegen „Besitzes von Material, das nützlich für Terroristen sein könnte“.

Die DUP des demagogischen Protestantenpfarrers Ian Paisley, die von Anfang an gegen das Belfaster Karfreitagsabkommen von 1998 war, konnte ihre Freude über die Aktion nicht verbergen. Paisley verkündete vorgestern freudestrahlend, dass er seine beiden Minister aus der Autonomieregierung zurückziehe. Er forderte Reids Rücktritt.

Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams bezeichnete die Polizeiaktion als „politisches Theater“. Er will den Inhalt der Computerdisketten, die vorgestern von der Polizei zurückgegeben wurden, demnächst veröffentlichen. Sinn Féin glaubt, die Razzia zum jetzigen Zeitpunkt war politisch motiviert: Der Parlamentsbote, der die Geheimpapiere für die IRA fotokopiert haben soll, hat seinen Job bereits im September 2001 aufgegeben. Seitdem verdächtigte ihn die Polizei, Reid war seit Juli darüber informiert.

Trimble hatte der IRA im vorigen Monat bis Mitte Januar 2003 Zeit gegeben, sich aufzulösen. Sonst würde er seine Leute aus der Regierung zurückziehen. In diesem Fall hätte man ihm aber das Scheitern des Friedensprozesses angekreidet. Nun kann er die Schuld auf Sinn Féin und IRA abwälzen.

Eine Suspendierung der Autonomie würde den Gegnern des Friedensprozesses unter den Unionisten und den Sicherheitskräften in die Hände spielen, sagte Adams dazu: „Alle Parteien, einschließlich Sinn Féin, hätten in den vergangenen fünf Jahren genug Gründe gehabt, aufzugeben. Was immer auch passiert, wir müssen diesen Friedensprozess wieder zusammenflicken.“

Adams trifft heute zu Gesprächen über die Krise in Nordirland mit Tony Blair zusammen, um eine Auflösung des Parlaments zu verhindern. Die Chancen dafür sind jedoch gering. Bereits gestern sprach Blair mit seinem irischen Amtskollegen Bertie Ahern. Der drängte darauf, die nordirischen Wahlen, die im kommenden Mai stattfinden sollen, vorzuziehen. Diesem Vorschlag kann Blair jedoch nicht viel abgewinnen. Er befürchtet, dass bei Wahlen zum jetzigen Zeitpunkt Sinn Féin auf katholisch-nationalistischer Seite und die DUP auf protestantisch-unionistischer Seite stark zulegen würden. Auch Trimble hält vorgezogene Neuwahlen für eher schädlich. Er fügte jedoch hinzu, dass eine Suspendierung des Parlaments das Problem nicht lösen werde: „Das Beste wäre es, wenn Sinn Féin ihre Privatarmee abschafft.“

Blair will nach der Auflösung des Belfaster Parlaments versuchen, gemeinsam mit der irischen Regierung die IRA zur Ausmusterung weiterer Waffen zu bewegen. Gleichzeitig würde er den Abzug britischer Truppen aus der Krisenprovinz vorantreiben. Auf diese Weise, so hofft er, könne das Friedensabkommen vorerst gerettet werden, auch wenn die darin vorgesehenen Institutionen nicht mehr bestehen.

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