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Russisch Holz

Matroschkas – das sind Puppen in Puppen. Nicht nur Touristen mögen sie. Ein Museum in Moskau dokumentiert die Geschichte dieser Figuren – jetzt feiert das Haus am Arbat einjährigen Geburtstag

von BARBARA OERTEL

Zumindest in Russland kennt sie jeder – die dralle, pausbäckige, untersetzte Bäuerin aus Holz, die, geschürzt, das Haar unter einem Kopftuch versteckt, im Arm einen Korb mit Früchten oder Getier, mit einem schüchternen Lächeln und großen Augen in die Welt blickt. Ihr Schoß ist fruchtbar und das Innenleben entsprechend spannend. Je nach Künstler und Herstellungsort finden von drei, fünf über zehn bis zu mehreren Dutzend ineinander verschachtelte Figuren im Leib der Bäuerin Platz: die Puppe in der Puppe – die berühmte Matroschka.

Auf der Arbatstraße im Zentrum Moskaus, dem einst legendären Treffpunkt der Moskauer Künstlerszene und heute ersten Flaniermeile für in- und ausländische Souvenirjäger, beherrscht die Holzpuppe das Bild. Neben Samowaren, Pelzen, selbst gestrickten Schals und Kopftüchern, Holzkästchen, Broschen, Ketten, Gemälden, Schachspielen, Abzeichen, Sowjetfahnen und Tassen mit Fotos von Lenin und Stalin marschieren hier täglich unzählige Bataillone der Matroschkas auf.

Längst hat das Dorfmädchen harte Konkurrenz bekommen. So sind deutsche und israelische Kanzler und Premierminister, die Staatschefs der Sowjetunion und Russlands, die US-Präsidenten sowie die letzte Zarenfamilie genauso zu haben wie Harry Potter und seine Freunde, berühmte Schauspieler, Sportler und die Beatles natürlich auch.

Offensichtlich reagieren die Produzenten schnell auf weltpolitische Ereignisse. So ist seit knapp einem Jahr die „Bin-Laden-Matroschka“ der Verkaufshit. Aus dem Unterleib des grimmig dreinblickenden islamischen Terroristen schlüpfen der Reihe nach Iraks Staatschef Saddam Hussein, Palästinenserpräsident Jassir Arafat, Libyens Nummer eins Muammar al-Gaddafi – und ganz zum Schluss eine Bombe.

Dmitri, eigentlich gelernter Radiotechniker und seit fünf Jahren auf dem Arbat Souvenirverkäufer wider Willen, hat noch eine besondere Variante anzubieten. Schnell und geübt zerlegt er Bin Laden – woraufhin Josef Stalin und Benito Mussolini zum Vorschein kommen. Am Ende zieht er das letzte Mitglied der wenig sympathischen Matroschkafamilie, kaum größer als ein Mensch-ärgere-dich-nicht-Figürchen, heraus: „Gitler!“, ruft er grinsend. Doch diese Art von Matroschkas sei für ihn purer Kommerz. Besonders amerikanische Touristen kauften Bin Laden samt Anhang, als sei es der letzte Schrei. „Und dabei feilschen sie um jeden Dollar.“

Lieber hat er deshalb mit seinen Landsleuten zu tun, denn die zahlten wenigstens die genannten Preise. Auch scheinen die Russen wenig Gefallen an der politischen Spielart der Matroschka zu finden, sie bevorzugen die traditionellen Figuren. Genau wie Dmitri. Zielsicher angelt er von seinem Holztisch, wo die Puppen fein säuberlich aufgereiht sind, ein Bauernmädchen mit Kopftuch, im roten Kaftan und mit einem Blumenstrauß in der Hand. „Die gefällt mir am besten, die verkaufe ich auch am liebsten. Als ich klein war, hat mir meine Mutter so eine geschenkt“, sagt er. Heute stünden sogar fünf oder sechs verschiedene Exemplare in seinem Zimmer. Zärtlich dreht er die bunte Puppe in seiner Hand. „Sie ist ganz schlicht, klassisch, traditionell eben.“

Auf eine traditionsreiche Geschichte kann die Holzpuppe wahrlich zurückblicken. Im Jahre 2000 beging sie ihren hundertsten Geburtstag. Hergestellt von dem Drechsler Wassili Swjosdotschkin und bemalt vom Kinderbuchillustrator Sergei Maljutin, erblickte die erste russische Matroschka Ende des 19. Jahrhunderts in der Moskauer Werkstatt des Kaufhauses „Kindererziehung“ in der Leontjewskigasse das Licht der Welt. Dabei stand hier, wohl aus pädagogischen Erwägungen, die Idee Pate, ein Spielzeug zu schaffen, das kindgerecht die Vorstellungen von Mutterschaft, Fruchtbarkeit und Familie symbolisiert.

Noch heute ist nicht ganz geklärt, ob die Russen wirklich die Erfindung der Puppe in der Puppe für sich reklamieren können. Vielmehr scheinen Swjosdotschkin und Maljutin von der japanischen Fukurumapuppe inspiriert worden zu sein, die Kaufleute nach Russland gebracht hatten. Anders als die spätere Matroschka wurde das hölzerne Abbild des kahlköpfigen, buddhistischen Weisen aber nicht in der Mitte, sondern am Fuß geöffnet, um an die anderen Figuren heranzukommen.

Die Wahl des Namens Matroschka war selbstverständlich kein Zufall. Im bäuerlichen Milieu des vorrevolutionären Russland waren Matrona und Matroscha weit verbreitete Frauennamen – die Wurzel des lateinischen Wortes mater ist unverkennbar – und daher passend für die neuen Holzgeschöpfe.

Die erste Matroschka, ein Bauernmädchen mit einem schwarzen Hahn im Arm, bestand aus acht Figuren, wobei sich Mädchen und Jungen abwechselten. 1900 auf der Pariser Weltausstellung präsentiert, machte das russische Spielzeug auch im Ausland Furore. Kurz darauf wurde die Produktion in die alte Klosterstadt Sergiew Posad, rund siebzig Kilometer von Moskau entfernt gelegen und schon damals ein Zentrum der Spielzeugherstellung, verlagert.

1911 produzierte die ein Jahr zuvor gegründete Genossenschaft „Handwerker-Künstler“ in Sergiew Posad, die in den Zwanzigerjahren in „Genossenschaft der Arbeiter und Bauern der Roten Armee“ und 1928 in „Spielzeugfabrik Nr. eins“ umbenannt wurde, außer für den einheimischen Markt auch im Auftrag von vierzehn Ländern. Der Kunde hatte die Wahl unter 21 verschiedenen Matroschkas, wobei die Anzahl der Figuren von zwei bis 24 variierte. 1913, auf der St. Petersburger Spielzeugausstellung, präsentierte der Drechsler Nikolai Bulyschewitsch sogar eine Matroschka mit 48 Figuren.

Wenngleich die Frauenfigur in verschiedenen Abwandlungen und stets eng verbunden mit den Traditionen russischer Volkskunst das Sortiment eindeutig bestimmte, war die Angebotspalette der Künstler in Sergiew Posad vielfältiger. Außer so genannten ethnografischen Matroschkas, die Angehörige verschiedener Volksgruppen wie Armenier und Türken darstellten, sowie solchen, die Vertreter von Berufsgruppen präsentierten, wurden auf den Puppen auch historische Figuren verewigt, zum Beispiel Bojaren, Zaren und Angehörige siegreicher Armeen sowie Helden aus der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts.

Manche Matroschka erzählte sogar ein russisches Märchen. Nicht zuletzt die Künstler, die in der Tradition der russischen Ikonenmalerei standen, lebten sich auf Brust und Rumpf der Matroschka aus. Neben dem beliebten Duo Braut und Bräutigam mit Kerzen in den Händen und Illustrationen verschiedener kirchlicher Feste fand sich auch die Mutter Gottes auf Holz gebannt.

Anfang der Zwanzigerjahre nahm die Puppenvielfalt jedoch ein abruptes Ende, die Matroschka kam auf den Index. In einem Dekret des Künstlerkomitees des Moskauer Kustarnimuseums vom 15. November 1923 heißt es, viele Varianten der Matroschka entsprächen nicht dem künstlerischen Niveau, seien nicht ideologisch fundiert und stellten auch kein Andenken an historische Zeiten dar. Fortan wurde die Puppe in standardisierter bäuerlicher Form und daher politisch gänzlich unverdächtig von Kollektiven in Staatsbetrieben am Fließband produziert.

Mit dem Umbruch Anfang der Neunzigerjahre ist auch die Matroschka in ihrer Vielfalt wieder auferstanden. Die Künstler am Arbat haben den Ehrgeiz, die Traditionen des Landes wiederzuentdecken. So stellen viele Matroschkas das Schicksal des letzten Zaren dar – ein Thema, das seit der feierlichen Bestattung der Überreste von Nikolas II. und seiner Familie in St. Petersburg im Juli 1998 wieder hoffähig ist. Eine besondere Renaissance erlebt derzeit die religiöse Matroschka, wobei die Puppe oft nicht selbst als Mutter Gottes gestaltet ist, sondern vielmehr die Oberfläche abgibt, auf die eine Ikone en miniature gemalt ist.

Doch eines hat sich nicht geändert: Nach wie vor gibt die Frau als Mutter und Oberhaupt einer möglichst vielköpfigen Familie den Ton an. Dabei taucht besonders häufig die Rose auf, die die Schürze der Frauenfigur ziert und in Russland als Symbol für den weiblichen Ursprung, für Liebe und Mutterschaft gilt. Das Festhalten an der Matroschka als Inkarnation von Mütterchen Russland mag auch daran liegen, dass in Zeiten stürmischer Veränderungen mit unbekanntem Ziel und dem Verlust bisher für unverbrüchlich gehaltener Werte die Familie vielleicht die einzige verlässliche Institution geblieben ist.

Für die Verkörperung des Geistes der heutigen Zeit“, schreibt die Volkskundlerin Larisa Solowjewa in einem Bildband über die Matroschka, „gibt es nicht Besseres als die Matroschka – von außen nichts als eine einfache Holzpuppe, die aber in ihrem Wesen viel Unerwartetes und Dialektisches trägt. Die karnevaleske Volkskunst, die sich in der Bemalung der Matroschka zeigt, erlaubt es nicht nur, sich der ewigen Probleme des Lebens zu vergewissern und sie zu lösen, sondern auch die Realitäten der Gegenwart in ihrer täglichen Form darzustellen.“

Das Phänomen der Matroschka in all seinen Facetten, selbst zu kuriosesten, zu präsentieren, liegt auch Waleri Schewzow am Herzen. Er ist leitender Mitarbeiter des landesweit ersten russischen Matroschkamuseums, das kommenden Mittwoch seinen ersten Geburtstag feiert. Das Museum ist in einem ehemaligen Moskauer Bürgerhaus in der Leontjewskigasse untergebracht und damit genau am Geburtsort der ersten Puppe in der Puppe.

Stolz präsentiert Schewzow seine Sammlung, die vierzehntausend Exponate umfasst. Neben klassisch-traditionellen und zeitgenössischen Exemplaren verwahrt er hier auch außergewöhnliche Stücke. Er lupft das Oberteil einer rund fünfzig Zentimeter hohen Puppe – und schon erklingt die russische Volksweise „Ochi schernije“ („Schwarze Augen“). Aus einem hölzernen Weihnachtmann zieht er gar einen kompletten Satz Christbaumschmuck hervor. Zu guter Letzt stellt Schewzow einen hölzernen Bojaren auf den Tisch, Modell Matroschka als Geschenkverpackung. Diese hat gerade Platz genug für die diskrete Beförderung einer Wodkaflasche.

„Besonders vor Anfragen von Schulklassen kann sich das Museum kaum retten“, sagt Schewzow. Aber es kämen auch immer mehr Erwachsene, um sich die Sammlung anzugucken – und wohl auch, um das eine oder andere Souvenir mit nach Hause zu nehmen. Auch wer etwas Exklusiveres will, findet ein passendes Objekt. Eine Matroschka, die an exponierter Stelle thront und aus fünfzig Figuren besteht, kostet natürlich viertausend Dollar. „Da stecken zwei bis drei Monate Arbeit drin“, sagt Schewzow. Schon hegt er Expansionswünsche. Gerade wird ein zweiter Raum restauriert, um weiteren Puppen künftig Platz zu bieten. Wann er eröffnet wird, ist derzeit noch ungewiss. „Spätestens aber“, sagt Schewzow, „zu unserem zweiten Geburtstag.“

BARBARA OERTEL, 38, ist seit Oktober 1995 taz-Osteuropa- und Balkanredakteurin. Das Matroschkamuseum besuchte sie im September. Zu Hause hat sie drei Modelle der Puppe in der Puppe, natürlich auch eine „politische“

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