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Ein vergessener Präsident

von STEFAN SCHAAF

Er war der Pechvogel unter den Präsidenten, der seine Wiederwahl nur um Zehntelprozente verpasste. Er war die Nervensäge im Weißen Haus, der sich in die kleinsten Details einmischte. Er war ein Moralapostel, der erstmals Menschenrechte – vor allem in Osteuropa und der Sowjetunion – über Machtpolitik setzte. Er war der Außenseiter aus dem ländlichen Georgia, dessen Südstaaten-Singsang in den Ohren der urbanen Yuppies von New York oder Los Angeles stets hinterwäldlerisch klang.

Dann wurde James Earl Carter jr. der vorbildliche, global engagierte Expräsident, der in Afrika gegen Krankheiten und in anderen Dritte-Welt-Ländern gegen Wahlbetrug vorging. Der Brückenbauer, dessen Carter Center in Atlanta seit 20 Jahren Arbeitsplatz für Konfliktforscher und Anlaufstelle für Konfliktbeteiligte ist und sich dem Kampf gegen Krankheit, Hunger und Gewalt verschrieben hat.

Selten schien diese politische Haltung in Washington weniger Konjunktur zu haben als gestern, am Tag, an dem beide Häuser des Kongresses Carters Nachfolger George W. Bush ermächtigten, die militärische Macht der Vereinigten Staaten gegen ein anderes Land – den Irak – einzusetzen, falls dessen Staatschef nicht alle Bedingungen der Vereinten Nationen erfüllt. Bushs gesamte bisherige Amtsführung ist die Antithese zu Carter: Nein zu internationalen Übereinkünften, zu beharrlicher Diplomatie, zu Versöhnung und gegenseitiger Hilfe.

Deswegen ist die ebenfalls gestern verkündete Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises an Jimmy Carter ein eindeutiges politisches Signal des Nobelkomitees. Die Begründung für die Auszeichnung lässt keinen Zweifel daran zu (siehe Kasten). Carter wertete die Auszeichnung in einer ersten Reaktion als Anerkennung für die Arbeit des Carter Centers und als „Ermutigung für alle, über Frieden und Menschenrechte nachzudenken“.

Jimmy – auch als Präsident blieb er stets Jimmy – Carter aus dem Erdnussfarmerkaff Plains in Georgia wurde 1976 ins Weiße Haus gewählt, in den Nachwehen des Watergate-Skandals und der von Präsident Richard Nixon ausgelösten tiefen politischen Vertrauenskrise. Nixons Nachfolger Gerald Ford hatte den 1974 zurückgetretenen Präsidenten wenig später begnadigt und damit einen Sturm der politischen Entrüstung ausgelöst. Das Land war einer als korrupt und arrogant empfundenen Washingtoner Politszene überdrüssig: Carter wurde mit einer knappen Mehrheit – 50,1 gegen 48 Prozent – 39. Präsident der USA.

Und er führte einen neuen Stil in Washington ein: Nach seiner Amtseinführung ging er zu Fuß vom Kapitol zum Weißen Haus, die Präsidentenjacht wurde verkauft, und die Speisekarten bei Empfängen in seinem Amtssitz wurden fortan auf Englisch und nicht mehr in Französisch verfasst. Seine kleine Tochter Amy sprang bei offiziellen Anlässen herum. Das brachte ihm Pluspunkte bei den WählerInnen, doch politisch hatte er immer wieder Pech. Er kam mit den Hypotheken, die seine Vorgänger hinterlassen hatten, nicht zu Rande: Die Wirtschaft der USA kränkelte wegen hoher Ölpreise und der Folgen des Vietnamkriegs. Die Inflation und die Zinssätze erreichten zweistellige Höhe. Ein zweiter Ölschock ließ die Amerikaner an den Tankstellen Schlange stehen.

Doch die außenpolitischen Fragen dominierten seine Präsidentschaft. Zunächst war er erfolgreich: Er handelte in kurzer Zeit die Rückgabe des Panamakanals aus, was ihm in Lateinamerika hoch angerechnet wurde. Den 1973 eingeleiteten Dialog zwischen Israel und Ägypten trieb er beharrlich voran, bis er schließlich die störrischen Verhandlungspartner, Ägyptens Präsident Anwar as-Sadat und Israels Premier Menachem Begin, auf seinen Landsitz Camp David einlud. Dort wurde im September 1978 der historische Deal der nahöstlichen Feinde besiegelt.

Heute sind die Geburtsfehler jenes historischen Deals offensichtlich: Er sollte den israelisch-palästinensischen Konflikt ohne die PLO lösen, er sah nur eine halbherzige „Autonomie“-Lösung für das Westjordanland und den Gasastreifen vor, und er blendete die Frage nach der Zukunft Jerusalems völlig aus. Doch er bedeutete Israels Rückzug vom Sinai und ein Ende der völligen diplomatischen Isolierung Israels in der Region. Begin und Sadat erhielten 1978 dafür den Friedensnobelpreis, ebenso wie 16 Jahre später Jassir Arafat und Itzhak Rabin für das Friedensabkommen von Oslo.

Zwei andere Staaten der Region wurden Carter dann zum Verhängnis: Iran und Afghanistan. Im Iran stürzte die schiitische Revolution des Ajatollah Chomeini Anfang 1979 das US-freundliche Regime des Schahs, am 4. November besetzten chomeinitreue Studenten die US-Botschaft in Teheran und nahmen mehr als 50 US-Bürger als Geiseln. In Afghanistan marschierten Ende des gleichen Jahres sowjetische Truppen ein, um das prokommunistische Regime in Kabul vor einer islamischen Guerilla zu schützen.

Die Botschaftskrise in Teheran zog sich endlos hin, Verhandlungen über eine Auslieferung des krebskranken Schahs verliefen immer wieder im Sande. Und ein Versuch, die Geiseln mit militärischen Mitteln zu befreien, endete mit einem Fiasko. Acht US-Soldaten kamen beim Absturz ihres Helikopters in der iranischen Wüste ums Leben.

Als Reaktion auf die sowjetische Invasion in Afghanistan entschloss sich Carter zu einem harten Kurs gegen Moskau: Er ließ die Olympischen Spiele boykottieren, die 1980 in der sowjetischen Hauptstadt stattfanden, und sicherte den islamischen Gotteskriegern am Hindukusch trotz Zweifeln an ihrer politischen Zuverlässigkeit Militärhilfe zu.

Am Ende seiner Amtszeit hatte Carter viele Illusionen verloren. Er war als Taube gewählt worden und verließ das Weiße Haus gezwungenermaßen als Falke. Die Wahl 1980 verlor er äußerst knapp gegen den kalifornischen Gouverneur Ronald Reagan, der versprach, die Macht des Landes wiederherzustellen.

Carters Leben nach der Washingtoner Zeit muss für ihn wie eine Erlösung gewesen sein. Er habe sich entschlossen, seinen Status als ehemaliger Präsident des mächtigsten Landes der Erde auszunutzen und einige weiße Flecken auszufüllen, sagte Carter einmal.

Das Carter Center solle so etwas wie ein permanentes Camp David sein, schwebte ihm vor. Doch dann habe er erkannt, dass Konflikte meist tiefere Ursachen haben: Krankheit, Hunger, das Streben nach Freiheit. Carter entschloss sich, diese Ursachen zum Mittelpunkt seiner Arbeit zu machen. Auch in Zukunft wolle er da aktiv werden, wo die Vereinten Nationen oder die USA aus unterschiedlichsten Gründen nicht tätig seien, sagt Carter auf der Website des Carter Centers (www.cartercenter.org). Er habe begriffen, dass Menschenrechte mehr seien als rein politische Rechte, dass auch Nahrung, Gesundheit und gesellschaftliches Gehörtwerden dazugehören.

In Afrika arbeitete er daran, Erkrankungen wie die Flussblindheit und die Guineawurm-Krankheit auszurotten. Als Diplomat in eigenem Auftrag oder als UN-Emissär überwachte er mit Mitarbeitern des Carter Centers umstrittene Wahlgänge in Panama, El Salvador, Nicaragua, Äthiopien und Haiti. Er vermittelte 1994 erfolgreich im schweren Konflikt um das nordkoreanische Atomprogramm, das beinahe zum Krieg geführt hätte.

Seit Camp David war Jimmy Carter in der engeren Wahl des fünfköpfigen Nobelkomitees. In diesem Jahr ist dessen Entscheidung besonders zeitgemäß.

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