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Poesie der Baustelle

Als „Tempel der Technik“ bezeichnete Joseph Roth es vor achtzig Jahren. Zwischenzeitlich Brache, entfaltet das Gleisdreieck nun wieder neue Magie

Birken, die sich von Eisenschwellen ernähren – auf welchem Reißbrett wird das ertragen?

von WALTRAUD SCHWAB (Text) und ROLF SCHULTEN (Fotos)

Auf dem Gleisdreieck findet eine Zeitreise statt. Soll sich hier doch die Entstehung der Metropole zeigen. Schon vor achtzig Jahren war das so. „Ich bekenne mich zum Gleisdreieck“, schrieb Joseph Roth 1922. Der Großstadtflaneur sah in den gewagten Stahlträgerkonstruktionen der sich kreuzenden Hochbahnen und den damals dort verkehrenden Fernzügen und S- Bahnen „Anfangsbrennpunkt eines Lebenskreises und fantastisches Produkt einer Zukunft verheißenden Gewalt“.

Futuristische Maschinenverliebtheit hat Roth mit einer dunklen, apokalyptischen Note kombiniert. Sein Metropolis frisst den Menschen. Dass der noch Kinder zeugt, Lichter in Stuben anzündet, seine Suppe mit dem Löffel isst, macht ihn zur kleinlichen Randfigur in einem Szenario, in dem vielmehr gilt: „Eiserne Landschaft, großartiger Tempel der Technik unter freiem Himmel.“ Der Rauch der Fabriken wird zum Weihrauch eines „ ewigen Gottesdienstes der Maschinen im weiten Umfang dieser Landschaft aus Eisen und Stahl, deren Ende kein menschliches Auge sieht“. Der Journalist häufte den funkensprühenden Bombast in opulenten Sätzen aufeinander.

Am Ende aber blieb nur die Asche der „Zukunft verheißenden Gewalt“. Das „Aderndreieck“, wie Roth schreibt, hatte als Folge des Krieges jahrelang nicht mehr pulsiert, war zur Brache verkommen. Kein Ort, an dem gilt: „Schüchtern und verstaubt werden die zukünftigen Gräser zwischen metallenen Schwellen blühen.“ Im Gegenteil. Ein Kleines war es, die Schwellen mit der Antigeometrie von Wurzel, Stamm und Blüte zu überwinden.

Dass an dieser Nahtstelle zwischen Zukunft und Vergangenheit, zwischen Natur und Technik, zwischen Chaos und Kontrolle nach dem Mauerfall die Metropole erneut entstehen sollte, ist der Magie des Ortes geschuldet. Und der Wut auf die Niederlage. Birken, die sich von Eisenschwellen ernähren, Rainfarn, der sich durch Teer und Schotter bohrt – auf welchem Reißbrett wird so was ertragen? Das Gleisdreieck wurde zur Einfahrtstelle für die Verkehrsströme der wieder einmal anbrechenden neuen Zeit erklärt. Eisenbahnen aus aller Welt sollen von dort aus die Metropole unterirdisch durchqueren. Seit Jahren wird daran gebaut.

Zu erkennen ist das zukünftig Mächtige an den in die Erde gebohrten Tunnel, deren Eingänge sich als offene Mäuler, die in die Unterwelt zeigen, darbieten. Aus sicherer Entfernung in den U-Bahn-Zügen, die über das Gleisdreieck schweben, lässt sich das kommende Inferno nicht erahnen. Stattdessen ist das Mannigfaltige der Konstruktion, die sich hier in ihrer Maßlosigkeit als Dekonstruktion entlarvt, gleichgültig zu bewundern. „Guck mal, eine Höhle“, schreit ein Kind. „Wird das eine Halfpipe?“, fragt ein anderes. Zugegeben, wir wissen es nicht. Die Fantasie der Kinder hält nichts fest. Vor Monaten sah es aus wie ein verwegen mit grüner Plane abgedichtetes Wasserbassin und war doch kein „Schwimmbad“.

Seit Jahren strebt am Gleisdreieck das Holzverschalungshandwerk seinem Höhepunkt entgegen, denn Tunnel müssen gehätschelt werden. Die Schönheit des Vergänglichen am Bau protzt mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln: mit Sandbergen, Stahlträgerhalden, Betonmischanlagen und Lastwagenparks. Nach und nach wurde das Gelände eingenommen von der sich perpetuierenden Wichtigkeit einer Gegenwart, die sich nicht fortentwickeln will, sondern zurückbleibt auf der Stelle. Das Gleisdreieck: eine Baustelle. Birken und Rainfarn sind nicht verschwunden, aber sie kommen auch nicht mehr dagegen an. Trost spenden dem Auge wie so oft nur die Relikte der Vorvergangenheit, weil sie allem Unvollständigen gegenüber konkret sind: Schrebergärten, die der neuen Zeit trotzen, und alte verrostete Schuppen, die sich vergessen gegen die Böschungen ducken.

Vor hundert Jahren löste die Absicht, die U-Bahn-Linie überirdisch zu führen, einen Sturm der Entrüstung aus. Die Schönheit des Stadtbilds schien in Gefahr. Mit der Zeit wurde aus der Ansichtssache eine Aussichtssache.

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