: Verzicht auf rot-grüne Symbole
Der neue Koalitionsvertrag mit seinen vielen Einzelbeschlüssen taugt zum Regieren,aber nicht für die überfällige gesellschaftliche Diskussion um politische Werte und Ziele
Zu Recht werden Sachfragen für wichtiger gehalten als Personalfragen. Aber es sind eben Personen, die über diese Sachfragen entscheiden, weshalb hinter dem großen Interesse an Kabinettslisten doch erheblich mehr steckt als die Lust am politischen Klatsch. Wen hält der deutsche Bundeskanzler also für besonders geeignet, die von ihm angestrebte Politik zu gestalten? Wer sind die aus seiner Sicht besten Leute, die er finden konnte? Neben anderen und vor allem der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement, dessen langjähriger brandenburgischer Amtskollege Manfred Stolpe und die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, deren bisheriges Wirken offenbar als segensreich genug gilt, um ihr nun auch noch die Sozialpolitik anzuvertrauen. Dem Morgenrot entgegen. Der Zukunft zugewandt.
Dass der rot-grünen Bundesregierung im Laufe ihrer vierjährigen Ausbildungszeit einige Visionen abhanden gekommen sind, wurde bereits häufiger festgestellt, oft hämisch, gelegentlich enttäuscht und manchmal auch erleichtert – je nach Standpunkt. Als „Projekt“ bezeichnet das Bündnis längst kaum noch jemand, und der sonst so nüchterne SPD-Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering löste mit seiner seltsam schwärmerischen Behauptung, nun habe eine rot-grüne „Epoche“ begonnen, eher Erheiterung als Freude aus.
All das muss jedoch keineswegs gegen die Regierung und ihre Politik sprechen. Im Gegenteil: Wenn politische Handlungen allzu gefühlig untermauert werden, dann besteht meist Anlass zu erhöhter Wachsamkeit – man erinnere sich in diesem Zusammenhang nur an Rudolf Scharping und den Kosovokrieg.
Koalitionen sind keine Geliebten. Sie sollen ihre Wählerinnen und Wähler nicht glücklich machen, sondern möglichst zufrieden. Deshalb genügt es völlig, wenn sie einen grundsätzlichen Kurs festlegen und versuchen, innerhalb dieses selbst gesteckten Rahmens eine vernünftige Politik zu machen. Den Rahmen sollte es allerdings schon geben, sonst brauchte man statt Politikern lediglich qualifizierte Verwaltungsbeamte.
Genau daran hapert es jedoch bei der rot-grünen Regierung. Die Koalitionsverhandlungen verliefen professionell und weitgehend störungsfrei. Nun werden sich zwar nicht alle Proteste als versuchte Besitzstandswahrung abqualifizieren lassen, auch wenn es selbstverständlich ist, dass der am Ende herausgekommene Vertrag nicht jedem schmeckt. Andererseits jedoch lässt er sich auch schwerlich als völlig absurd bezeichnen. Aber reicht das?
Wer bereits versucht hatte, aus den bisherigen Zwischenergebnissen eine grobe Linie für die nächsten vier Jahre herauszulesen, tat sich schwer. Da Medien griffige Überschriften brauchen, haben sie der Koalition in den letzten Tagen dennoch die Arbeit abgenommen, eigene Schwerpunkte zu definieren. Umweltpolitik und Familienförderung sollen diesen zufolge Priorität genießen. Ach ja, und natürlich die Arbeitsmarktreform. Und die soziale Gerechtigkeit. Und die Bildung. Alles sehr ehrenwerte Anliegen. Welche Ziele hätten Union und FDP wohl im Falle eines Wahlsieges auf ihre Fahnen geschrieben? Gut, wahrscheinlich nicht die Umweltpolitik. Allerdings hätten sie sich auch nicht auf ein Kanzlerwort verpflichten lassen müssen, das einem überalterten Kernkraftwerk eine längere Lebensdauer beschert. (Fast) alles gleicht sich aus im Leben.
Das soll nun nicht heißen, dass sämtliche im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Vorhaben bedeutungslos und von der Opposition in gleicher oder ähnlicher Weise in Angriff genommen worden wären. So ist nicht anzunehmen, dass eine unionsgeführte Regierung ebenfalls den Verbraucherschutz als Querschnittsaufgabe in alle relevanten Politikbereiche einbezogen oder dass sie die erneuerbaren Energien in vergleichbarer Weise für förderungswürdig erklärt hätte. In diesen Bereichen trägt die Vereinbarung eine unverkennbar rot-grüne Handschrift, und es ließen sich durchaus mehr Beispiele nennen.
Aber es hat eben jedes Ressort so vor sich hin verhandelt, und das wird erkennbar. Deshalb stehen viele einzelne Vereinbarungen unverbunden nebeneinander, wie die letzten Säulen zerstörter Tempel aus einer längst vergangenen, großen Zeit. Was geht verloren, wenn eine dieser Säulen endgültig zu Staub zerfällt? Darüber streiten Fachleute. Die Öffentlichkeit bleibt davon weitgehend unberührt.
Diese öffentliche Distanz, die auch für Gleichgültigkeit gehalten werden kann, ist im politischen Alltagsgeschäft hilfreich, um die täglichen Anforderungen des Jobs zu bewältigen. Spitzt sich jedoch eine Situation zu, dann ist jede Regierung auf Unterstützung angewiesen – und dann kann die relative Gleichgültigkeit der eigenen Anhänger, die Handelnde lange als sehr bequem empfunden haben mögen, für diese zum Desaster werden. Und vielleicht ist es auch gar keine Gleichgültigkeit, sondern Ingrimm. Jeder Fünfte geht nicht mehr zur Wahl. Und jeder noch so platte Witz auf Kosten „der Politiker“ ist ein sicherer Lacher.
Die Ansicht ist weit verbreitet, dass die Gesellschaft einer neuen Grundsatzdiskussion über politische Ziele und Werte bedarf. Dieser Koalitionsvertrag eignet sich kaum als Referenzgröße für eine derartige Auseinandersetzung. Man kann die neuen Formen der Besteuerung von Kapitalgesellschaften ebenso für richtig oder für falsch halten wie die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Zum Glaubenskrieg taugen die nebeneinander stehenden Maßnahmen nicht.
Die rot-grüne Bundesregierung, die vor vier Jahren vielleicht zu viele Themen mit hohem Symbolgehalt in Angriff genommen hat, ist aus Schaden allzu klug geworden. Sie verzichtet nun fast völlig auf symbolische Politik. Das ist riskant. Wenn es kein Banner mehr gibt, hinter dem sich irgendjemand versammeln kann, dann versammelt sich eben auch niemand mehr. Viele jener, die das rot-grüne Regierungsbündnis im September nur noch mit zusammengebissenen Zähnen wählen mochten, haben ihre Entscheidung damit begründet, dass die Koalition ihre Arbeit noch nicht beendet habe und deshalb eine zweite Chance bekommen müsse. Gegenwärtig sieht es so aus, als ob die Regierung gar nicht wüsste, was ihre Anhänger damit gemeint haben könnten.
Der Koalitionsvertrag ist ein Abkommen für gute Zeiten. Wen es allein bei dem Gedanken schaudert, dass Edmund Stoiber die Republik hätte regieren können, mag die Übereinkunft achselzuckend hinnehmen. Begeistern kann der Vertrag jedoch nicht. Er enthält nichts, was sich in schlechten Zeiten als emotionalisierendes Schlagwort benutzen ließe. Wahrscheinlich wird Rot-Grün diese Legislaturperiode dennoch überleben – schließlich sind die Alternativen noch deprimierender. Die Oppostion zerlegt sich gerade. Interessant ist allerdings die Überlegung, was wohl im Falle einer Wahlniederlage im rot-grünen Lager los gewesen wäre. Diese Vorstellung ernüchtert.
BETTINA GAUS
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