: Frankreichs Schulen im Streik
In Frankreich gehen Lehrer, Erzieher und Betreuer auf die Straße, um gegen Einsparungen an den staatlichen Schulen zu protestieren. Stellenabbau droht
PARIS taz ■ In einer Rekordzeit von nur vier Monaten im Amt hat Frankreichs Erziehungsminister Luc Ferry es geschafft, den überwiegenden Teil der Lehrer, Erzieher und Betreuer und einen großen Teil der Elternschaft gegen sich aufzubringen: Gestern waren fast alle staatlichen Schulen geschlossen. In seltener Einmut hatten sämtliche fünf Gewerkschaften des Erziehungssektors zu einem Streik gegen die Sparpolitik von Ferry aufgerufen. Gemeinsam schrieben sie auch einen Brief an den Ministerpräsidenten Jean-Pierre Raffarin. Falls dieser ihnen keine „Garantien für die Schule als öffentlichen Dienst“ gibt, wollen sie demnächst erneut streiken.
Am frühen Morgen lachte Minister Luc Ferry gestern noch in das Mikrofon eines Journalisten: Der Streik beruhe auf einem Missverständnis. Auf einer „Desinformation“. Wenige Stunden später fanden in mehr als 100 Städten große Demonstrationen gegen seine Politik statt. Die Gewerkschaften meldeten bis zu 80 Prozent Streikbeteiligung. Auch viele Elterngruppen waren auf der Straße, um ihre Unterstützung zu zeigen. Laut dem Institut CSA unterstützen 73 Prozent der Franzosen den Streik.
Auslöser für die Lehrerproteste ist der Haushalt für das Jahr 2003. Darin ist vorgesehen, an den staatlichen Schulen massiv zu sparen. Die Regierung will nicht nur sämtliche zusätzlichen Stellen einfrieren, die die linke Regierung nach dem letzten harten Lehrerstreik im Jahr 2000 angekündigt hatte, sondern sie will auch reale Stellenstreichungen vornehmen. Einerseits sollen 5.600 der 50.000 Betreuerstellen abgeschafft werden. Andererseits laufen im nächsten Jahr die ersten von 20.000 Erziehungshelferjobs in den Schulen aus, die die rot-rosa-grüne Regierung geschaffen hatte, um gegen die Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Damit wir die „nationale Erziehung“ um 25.600 Stellen reduziert. Demgegenüber sind nur rund 11.000 Neueinstellungen geplant. Als Ersatz schlägt das Erziehungsministerium Rentner und Mütter als Betreuerinnen für die Ganztagsschulen vor.
Die Gewerkschaften berichteten, der Streikaufruf in Kindergärten, Schulen und Universitäten sei sehr gut befolgt worden. Das Ministerium erklärte, 44 Prozent der Lehrer und 37 Prozent der Beschäftigten in Verwaltung und Technik seien nicht zur Arbeit erschienen. Der Ausstand war zunächst auf den Donnerstag beschränkt. Anfang November wollen die Gewerkschaften über weitere Aktionen entscheiden.
Die Regierung, die den Kampf gegen die Gewalt, besonders gegen die an der Schule, zu einer ihrer Prioritäten erklärt hat, setzt mit diesen Sparmaßnahmen ein viel kritisiertes Zeichen.
Auf den Demonstrationen wurde häufig der Nationalheld Victor Hugo zitiert. Er hatte im vorletzten Jahrhundert geschrieben: „Wer eine Schule baut, kann ein Gefängnis schließen.“ Die neue rechte Regierung in Paris baut dagegen Gefängnisse und stellt Polizisten ein.
DOROTHEA HAHN
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