Erinnerungsarbeit für einen Rebellen

Vor 225 Jahren wurde Heinrich von Kleist geboren. Eine Berliner Initiative hat sich des Unbequemen angenommen und möchte die Erinnerung an den Literaten, der einen ungeheuerlichen Tod starb, am Leben erhalten. Die Restauration des Grabsteins am kleinen Wannsee ist nur der Anfang

In Herz und Kopf geschossen, wie zwei seiner Novellenfiguren

von SUSANNE LANG

So viel Besuch wie heute gibt es hier selten. Bereits das zweite Pärchen spaziert an diesem Oktobertag auf ihn zu, den Stein – einen schmalen, erdigen Weg entlang, der von der Bismarckstraße bis ans Ufer des Kleinen Wannsees führt. Am Himmel graue Wolken, die Luft riecht noch nach dem letzten Regen. Das Pärchen stoppt, mitten auf einem kleinen Karree. „Aha. Sehr schön“, sagt die Frau, während im Hintergrund der Straßenverkehr in Richtung Potsdam rauscht.

Der Stein steht kalt und schön im Grund. Ganz so, als hätte er immer schon so rosagrau meliert geschimmert, als hätte ihn Steinmetz Rolf Philipp nicht einen ganzen Samstag lang mit harter Bürste und Wasser geschrubbt. „Heinrich von Kleist“ steht in sattem Rostrot auf seiner Vorderseite geschrieben. „Geboren am 18.“ – danach verschwindet das Rot, und die Schrift bleibt blass: „Oktober 1777. Gestorben 21. November 1811“. So wie man sie vor Jahren hineingemeißelt hat. Die Laune von Gert Schneider trübt das nicht. „Sind wa nicht fertig geworden“, sagt der ältere Herr mit den roten Bäckchen, der kurz nach den Spaziergängern zum Grab des Romanciers und Theaterautors kommt. Schneider klopft dem Steinmetzen Philipp auf die Schulter und lächelt unter seinem grauen Schnauzer. „Macht ja nischt, dann warten wa eben bis zum Frühjahr.“ Erinnerungsarbeit hat ja auch Zeit.

Verblasstes wieder aufleuchten lassen – darum geht es eigentlich bei all dem Rummel um den Stein. Genau unter ihm liegt der Dichter Heinrich von Kleist, der gestern vor 225 Jahren geboren wurde. Hier an diesem Ort, zwischen den hohen Ahornbäumen. Zwischen dem später errichteten Erkerhäuschen des heutigen Berliner Ruderclubs und einer Lichtung mit toten Baumstämmen, die die letzten Stürme umgeknickt haben. Zwischen Suizidkoketterie und Depression tötete Kleist im November 1811 zuerst seine Geliebte Henriette Vogel und anschließend sich selbst.

In Herz und Kopf geschossen, mit einer Pistole, gespenstisch, beinahe schicksalstreu zu zwei seiner Novellenfiguren. Es ist die Erinnerung an den Dichter, den Rebellen gegen gesellschaftliche Normen und Fremdherrschaft. Es ist sein Leben, sein Werk und sein damals tabuisierter Freitod – darum geht es einem wie Schneider. Die Erinnerung daran möchte die Berliner Kleist-Initiative, die sich vor einem Jahr gegründet und mittlerweile ein Dutzend Mitglieder hat, nicht verblassen lassen.

Gert Schneider ist Sprecher der Initiative mit einem klaren Ziel: „das unwürdige Gelände“ um die Gedenkstätte herum, vom Karree bis zum Seeufer, zu einem schönen kleinen Park machen. „Mit Parkbänken, Picknicktischen vielleicht sogar“, meint Schneider, „muss ja nicht immer alles so bierernst sein.“ Sogar ein kleines Amphitheater kann er sich vorstellen, mit Blick auf den See. Nur die rutschige, verwitterte Treppe hinab zum Ufer, die ärgern ihn sehr. „Für alte Leute ist das ein großes Hindernis.“

Eine Freundin hat Schneider vor ein paar Jahren bei einem Spaziergang auf die Idee gebracht. „Sie hat sich geärgert, dass hier alles verwildert und nicht einmal der Name von Kleists Freundin Henriette Vogel auf dem Stein steht“, erzählt der 66-Jährige. Seine Wangen haben sich mittlerweile stärker gerötet: die frische Herbstluft, der Wind, der kleine Kümmerling zwischendurch mit dem Steinmetzen, zur Feier des Tages.

Mit seinen Armen gestikuliert Schneider nun fast genauso schnell, wie er über sein Projekt spricht. Erzählt, dass er sich seither um das Gelände kümmert. Dass er beim Gartenbauamt anruft, bei benachbarten Rudervereinen vorstellig wird, mit Schulklassen zusammenarbeitet, mit dem Bezirksamt verhandelt. Dass er er Annonce nach einem kostenlos arbeitenden Steinmetzen gesucht und Rolf Philipp gefunden hat. Wie er nun zum 225. Geburtstag eine erste Gedenkfeier am frisch gesäuberten Grabstein organisierte, dabei Steckbriefe des Dichters verteilte und bald auch Schaukästen mit Informationen über Kleist aufstellen möchte.

Wenn man ihn so hört, scheint es, als hätte der pensionierte Lehrer, der in der 68er-Bewegung aktiv und mit Rudi Dutschke befreundet war, auch Kleist persönlich gekannt. Ein kleiner Rebell setzt sich für das Andenken an einen großen ein. „Widerstand war schon immer mein Thema“, sagt Schneider und lächelt. Deshalb auch die Vorliebe für deutsche Dramatiker, für Kleist und seinen „Michael Kohlhaas“ oder seine „Hermannschlacht“.

Dies gehört zum Andenken, zum Dichter und zu seinem Werk. Auf dem Weg zur Erinnerung daran gibt es andere, weltlichere Widerstände. Behörden zum Beispiel oder aufmüpfige Graffitisprayer, die das Hinweisschild an der Bahnüberführung übersprüht hatten. Dem fühlt sich Schneider gewachsen. „Hauptsache, einer fängt mal an“, meint der Mann mit dem Allerweltsnamen und dem Hobby, an Unbequeme zu erinnern. Auch wenn es manchmal nur eine Antwort auf eine kleine Frage ist.

„Entschuldigen Sie“, beginnt der männliche Teil des Pärchens, das sich immer noch umguckt. „Wie kommt es, dass er ausgerechnet hier eine eigene Grabstätte hat und kein Gemeinschaftsgrab auf einem Friedhof wie all die anderen? Wir haben doch noch berühmtere Gebeine hier in Berlin.“ „Weil Kleist hier seit 1811 begraben liegt“, erklärt Schneider, während er für heute seine Tasche zusammenpackt und den Regenschirm unter den Arm klemmt. „Wegen seines Freitods durfte er damals nicht auf einem Friedhof begraben werden.“ Ein Schaukasten wäre jetzt hilfreich. Aber darum kümmert sich Schneider später.