Je leerer die Flasche

Es gibt Weintester und Weintrinker. Eine neue, lebensnahe Methode der Verkostung versöhnt beide miteinander – und macht zudem Spaß

von WOLFGANG ABEL

„Vina probantur odore, sapore, nitore, colore.“ Die klare und altbewährte Regel der Ärzteschule von Salerno hat bis heute Gültigkeit. „Weine erprobt man an Duft und Geschmack, an Klarheit und Farbe.“ Die heute üblichen Regeln der Durchführung eines Weintests sind ungleich komplizierter. Allein schon der geforderte Prüfraum erinnert eher an ein Labor. Er soll „möglichst neutral hinsichtlich Geruch, Farbgebung (mattweiß), Beleuchtung (Tageslichtlampen), Temperatur (zwanzig Grad) und relativer Luftfeuchtigkeit (sechzig bis 75 Prozent)“ sein, so die Autoren Bergner und Lemperle in ihrem „Weinkompendium“.

Die Anforderungen an die Gerätschaften zum Ausgießen und Ausspucken der Weinreste sind in DIN 10962 niedergelegt, jene das Prüfglas betreffende in DIN 10960. Ein „Apfelkelch mit fünf Zentimeter hohem Stil“, der eine Beeinflussung durch Handwärme ausschließt, wird zur Entfaltung des Bouquets zu exakt einem Drittel gefüllt. Eignung und Empfindlichkeit der Prüfer können nach DIN 10959 ermittelt werden, wobei zu beachten wäre, dass die Geschmackssinne am Vormittag, etwa ab zehn Uhr, am wahrnehmungsfähigsten reagieren.

Nicht nur die Versuchsanordnung, auch die Bewertungsschemata einer so genannten Blindverkostung (mit verdeckten Etiketten) sind eine Wissenschaft für sich. So gibt es Testverfahren, deren Maximalergebnis bei fünf Punkten liegt. In der Weinpublizistik ist mittlerweile das Zwanzigpunkteschema weit verbreitet, während der weltweit einflussreichste Weinkritiker Robert Parker, angelehnt an das amerikanische Schulsystem, die Hundertpunkteskala verwendet. Was Parker schmeckt, ist für manche Konsumenten Befehl, mit der Folge grotesker Preis- und Geschmacksentwicklungen. Parkers Vorliebe für schwere, dicke Weine hat ein weltweites Rennen um die opulenteste Vollfruchtbombe ausgelöst. Heraus kamen „Weine, so dick, dass man sie beinahe mit dem Messer abschneiden kann“ (Fachblatt Vinum). Viele solcher Kultweine oder besser Trinkmarmeladen sind für normal sterbliche Weinfreunde weder bezahlbar noch erhältlich, gleichwohl versuchen Erzeuger weltweit eine Imitation dieses extremen Weintyps.

Andere Bewertungen, wie das verbreitete Zwanzigpunkteschema, erheben Anspruch auf größtmögliche Objektivität. Dies zeitigt Erfolg vor allem bei jenen geschmacksunsicheren Käufern, die einem gedruckten Text mehr trauen als dem eigenen Gaumen. Interessant bleibt allemal, dass die immense Zahl der veröffentlichten Weintests in einem krassen Missverhältnis zur Zahl der Versuche steht, ebendiese Testergebnisse in einem zweiten Versuch zu wiederholen. Dabei wäre die Reproduktion der Bewertungsergebnisse der einzige Beleg für die stets unterstellte Objektivität des Verfahrens. Schon seltsam, dass der Eifer der Tester von einem eigenartigen Desinteresse an der Verifizierung der Resultate begleitet wird.

Odore, sapore, nitore, colore – Studenten einer Önologieklasse der Schweizer Fachhochschule in Wädenswil haben das weite Feld der Weinprüfung um ein Testverfahren bereichert, das einfach und aussagekräftig ist und inzwischen von der Zeitschrift Merum mehrfach angewendet wurde. Beim so genannten JLF-Test werden alle etablierten Regeln herkömmlicher Weinverkostung ignoriert. Keine Blindprobe, kein Testprotokoll, keine Streichergebnisse bei zu großen Abweichungen von der Mehrheitsmeinung. Auch keine sterile Laboratmosphäre, sondern, im Gegenteil, gesellige Stimmung mit Freunden des Hauses.

Anders als beim herkömmlichen Procedere wird beim JLF-Test das Beweismittel nämlich nicht ausgespuckt, sondern geschluckt. Der Test geht demnach von der unverschämten Vermutung aus, dass von einem guten Wein mehr und zügiger getrunken wird als von einem schlechten. „JLF“ steht für „je leerer die Flasche“. Die Hypothese: Je leerer die Flasche, desto besser der Wein. Die Versuchsanordnung: Die Gäste beschränken sich auf ein Weinthema, zum Beispiel trockene Weißburgunder aus der Pfalz.

Je Gast sind dann zwei Flaschen Weißburgunder erforderlich, eine gewisse Überversorgung ist gewollt. Die Flaschen werden unverdeckt gereicht, jeder probiert einen kleinen Schluck aller präsentierten Weine. Danach lässt man seinen Vorlieben freien Lauf und trinkt, was schmeckt. „Meinungsäußerungen, gegenseitiges Beeinflussen und egoistisches Austrinken des Lieblingsweins sind ausdrücklich erlaubt“, so die Wädenswiler Studenten. Ausspucken und Auskippen des Weins sind dagegen streng verboten. Bei Merum wird sogar ein Essen zum Wein serviert.

Nach einer bestimmten Zeit ist Schluss mit der fröhlichen Wissenschaft, und das Ergebnis wird unbestreitbar objektiv ermittelt: in Zentimeter Restwein. Je mehr Zentimeter Wein in der Flasche bleiben, desto schlechter die Benotung. Die Wädenswiler testeten zehn verschiedene Chianti. Interessant an ihrem Ergebnis: Auf den drei vordersten Plätzen mit null Zentimetern (also Flasche leer) lagen durchweg feine, fruchtbetonte, um Individualiät bemühte Weine. Auf den hinteren Plätzen landeten mit den „holzlastigen Internationalisten“ die üblichen Lieblinge der Weingurus. Aber die testen den Wein und trinken ihn nicht. JLF – gute Ideen sind oft ziemlich einfach.

Wolfgang Abel lebt in Badenweiler und schreibt Reise- und Rumtreibbücher. Zuletzt erschien „Südelsass und Sundgau“, vierte Auflage, 333 Seiten, 19 Euro. www.oaseverlag.de