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Man spricht Deutsch in Ulan-Bator

Die Hauptstadt der Mongolei hat nur wenig mit romantischen Vorstellungen von Jurten zu tun. Die Nomaden leben zwar dicht dran, aber in der Stadt müssen sie sich in die täglichen Staus eingliedern. Und im Nationalpark gibt’s Minijurten für Touristen und Sonnenkollektoren zum Kochen

„Wir lieben“, so eine Studentin in Ulan-Bator, „den deutschen Lebensstil“

von JOHANNES SCHRADI

„Es ist kalt, sagte der alte Mann lächelnd, richtete den gütigen Blick voll auf mich, und dann tranken wir den ersten Becher. „Es ist sehr kalt, sagte er und flocht das russische Wort „notschjen“ ein, um herauszubekommen, ob ich vielleicht ein Russe sei. Aber ich lächelte nur, und so tranken wir den zweiten Becher. „Es ist bitterkalt“, sagte er, und wir tranken mit großem Ernst den dritten Becher. Nun konnte die Unterhaltung beginnen.“

aus: Franz Mühlenweg, „Kleine mongolische Heimlichkeiten“, 1992 (1953)

Es ist heiß in Ulan-Bator. Verspätet hat sich der Herr Vizeminister an diesem himmelblauen Sommerabend, an dem es nicht abkühlen will, er hat den Staatsgast aus Deutschland warten lassen – vor lauter Stop and go auf den Straßen der Stadt. Und seit wann gibt es das in diesem Land: eine Verspätung aus solchem Grund? Wegen Staus in den breiten, unwirtlichen Fluchten der Häuserblocks aus den chinesischen und den sowjetischen Jahren. Nicht lange gibt es so etwas in Mongol Uls, der Mongolei. Der Stau, er kündet vom Aufbruch der einstigen sozialistischen Republik in eine neue Zeit. Und deshalb wirkt Vizeminister Luvsandagva Enkhtaivan auch nicht allzu geknickt, als er den Gast aus Deutschland, die parlamentarische Staatssekretärin Uschi Eid vom Entwicklungsministerium, nur mit Verzug willkommen heißen kann.

Fast freundschaftlich tut er es dann. Die zwischenstaatlichen Beziehungen sind gut, sie sind sogar exzellent. Und das hat nicht nur mit den Politik- und Gelddingen zu tun; neue Regierungsverhandlungen stehen gerade an. Da gibt es noch anderes Verbindendes.

„Man muss nicht mehr nach Deutschland fahren, um gutes Bier zu trinken“, sagt, in fließendem Deutsch, Tuvdendorj Galbataar. In prähistorischer Zeit – in den 70er-Jahren – hat er in Halle Physik studiert. Heute ist er Vizepräsident der Mongolischen Akademie der Wissenschaften. Das mit dem Bier ist natürlich ein Scherz – beiläufiger Hinweis darauf, dass es mitten in Ulan-Bator eine kleine Hausbrauerei, Khan Bräu, gibt. Der Khan-Chef heißt Klaus Bader, kommt aus der Nähe von Böblingen, spricht Schwäbisch und ist gerade dabei, zusammen mit seinem mongolischen Teilhaber – man kennt sich aus Reutlinger Studienzeiten – die heruntergekommene ehemalige Staatsbrauerei wieder in Schuss zu bringen. Erwarteter Jahresausstoß: 200.000 Hektoliter. Erwarteter Gewinn: Privatsache.

Auch in der Mongolei hat die Bundesrepublik das Erbe der DDR angetreten. Diplomatisch und entwicklungspolitisch war zu sozialistischen Zeiten Mongol Uls ganz deren Sache. Seit der Wende zählt Deutschland – mit jährlich zehn Millionen Hilfseuro – weltweit zu den wichtigsten Geldgebern. Soziale Marktwirtschaft statt Sozialismusliebe lautet das erste Gebot. Aber da ist noch etwas, die Sprache.

„Ein Wasser, eine Cola?“, fragt die Frau hinter ihrem Kühltruhenausschank, den sie auf den Gehsteig gerückt hat. „Und woher kommen Sie?“ In Leipzig hat sie einmal studiert. Aller Anfang ist schwer. Hinter dem Erdgeschossfenster, wo die Verlängerungsschnur verschwindet, richtet die Familie gerade ein kleines Café ein.

30.000 sind es, die als junge Stipendiaten einmal in Deutschland lebten, früher in der DDR, später auch im Westen. Nicht wenige gehören heute zur Politik- und Wissenselite – in diesem Land, das viermal größer ist als Deutschland, aber nur 2,5 Millionen Einwohner zählt. Rührig sucht der eingetragene Verein Mongolisch-deutsche Brücke, unterstützt mit deutschem Entwicklungsgeld, die Verbindung zu pflegen und auszubauen. „Wir lieben“, sagt eine ehemalige Stipendiatin, „den deutschen Lebensstil und die deutsche Wohnkultur.“

Aber das sind urbane Schwärmereien. Bedächtig reicht in der Jurte, draußen vor der Stadt, der alte Mann mit dem wettergegerbten Gesicht eine abgegriffene Schnupftabakflasche herum, als Zeichen der Gastfreundschaft. Der Alte ist das Oberhaupt der fünfköpfigen Nomadenfamilie, die dort ihr weißes Filzrundzelt aufgeschlagen hat; fast leer ist es, nur ein paar Schemel, der Ofen in der Mitte, eine rote Truhe, ein paar Fotos, persönliche Dinge. Die Höflichkeit gebietet, den kleinen Flakon mit dem roten Knauf mit Ernst entgegenzunehmen, indem die linke Hand den rechten Unterarm leicht berührt, die rechte Hand dann das Glas rund umschließt, sodann den Korken zu lüften, eine Prise zu nehmen, zumindest daran zu riechen und das Fläschchen ohne Eile weiterzugeben. Unglück bringt es, den Korken zu fest zu verschließen.

Vor der Jurte weiden Stuten. Hier im Nationalpark Terelj ist das Gras kurz, aber es ist nicht abgefressen bis auf den letzten Halm. Parkverwaltung und Naturschützer sind darauf bedacht, dass nicht zu viele der herumziehenden Nomadenfamilien hier ihre Jurte aufschlagen. Die nahe Metropole lockt. Touristencamps laden zum Naturschlaf in der Minijurte ein; inbegriffen im Pauschalpreis sind Hammelbraten, Trekking oder Ausritt durch die weitläufige Hügellandschaft mit ihren rund gewaschenen Felsformationen. Reglementiertes Nomadentum im Schutzraum eines Freilichtmuseums mit touristischem Nebensinn. „Reitspaß und so viel Natur“, freut sich eine Berliner Urlauberin; und dabei „nicht teurer als in Norwegen“. Dazu der Kick der Ferne.

200 bis 300 Stück Vieh besitzt, wo es keine Parkverwaltung und keine Naturschützer gibt, eine Nomadenfamilie – Schafe, Pferden, Ziegen, Yaks, Kamele. Immer mehr sind es geworden seit dem Ende der Sowjetwirtschaft, über eine Million Nomaden. 32 Millionen Vieh muss der in Richtung Gobi immer karger werdende mongolische Boden ernähren. Vor ein paar Jahren waren es noch 25 Millionen. Überweidung ist die Folge, die Wüste wächst, das Vieh darbt. Und täglich wachsen auch die bretterumzäunten Areale mit ihren weißen Jurten und selbst gezimmerten Holzhäuschen rund ums Zentrum von Ulan-Bator, wuchern im Schatten der grauen Plattenbauten die Hügel hinauf, greifen aus in die Senken des Tuul-Flusses. Die Kolchosewirtschaft auf dem Lande und die wenige Industrie in den Unterzentren der Mongolei sind zusammengebrochen. Und während die einen immer dichter an die Stadt heranrücken, suchten andere, nach der Wende, in der Stadtflucht ihr Heil, drängten zurück ins Leben mit Wanderjurte und Tieren.

Die Enttäuschung über die Regierungskunst der einst begeistert gewählten Parteien der jungen Demokratie ist groß. Seit zwei Jahren regiert wieder die ehemalige Einheitspartei MRVP. Doch zurück zur alten Planwirtschaft drängt es auch sie nicht. Junge Reformpolitiker haben das Ruder übernommen – solche wie der Herr Vizeminister für Wirtschaft und Finanzen. Sie alle hoffen auf Erfolgsgeschichten wie die des Klaus Bader.

„Aber zur Viehwirtschaft“, sagt illusionslos Luvsandagva Enkhtaivan, „gibt es auf absehbare Zeit keine Alternative.“ Noch immer ziehen Hunderttausende mit der Jurte und den Tieren durchs Land. Und das heißt auch: Die Katastrophe des Winters 2000/01, als in Schnee und eisigem Wind Millionen Tiere zu Tode kamen, kann sich wiederholen. Denn schuld war nicht allein das Wetter. Unzureichende Futterbevorratung für die Tiere und die Unerfahrenheit der neuen Nomaden aus den Städten hatten ihren Teil zum großen Drama beigetragen.

250 Kilometer nördlich von Ulan-Bator, nahe der russischen Grenze. „Sehen Sie das da drüben?“ Einen alten, olivgrauen Lastwagen sowjetischer Bauart hat Hans Hoffmann im Wald entdeckt. Der robuste Pfälzer im Kakihemd ist Forstexperte der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), ein wichtiger Mann der deutschen Entwicklungsarbeit, die in der Mongolei Ressourcenmanagement und Umweltschutz ganz obenan stellt. „Aber wie soll das gelingen“, fragt er, „wenn der Staat nicht präsent ist? Wenn dem illegalen Holzeinschlag und der Wilderei nicht Einhalt geboten werden kann.“ Berge von Sägemehl am Rande des schmuddeligen Grenzorts Altanbulag künden von rücksichtslosem Raubbau. Hans Hoffmann plädiert für konzessionierte Flächenbewirtschaftung und feste Abschussquoten für das Wild. Für weit höheren Nachlass auch auf Blattschussvergnügen der Freizeitjäger aus aller Welt, die hier so etwas wie das Paradies vorfinden „Was die Menschen illegal tun, müssen sie legal tun dürfen“, sagt Hoffmann. „Aber eben mit der notwendigen Rücksicht auf die Natur.“ Und wenn nichts passiert? „Dann wandern die Wälder binnen drei Jahren nach China ab. Und sie wieder aufzuforsten dauert 120 Jahre.“

„Ein Gesetz gilt nur einen Tag“, lautet eine mongolische Redensart. Bis in die Gegenwart hat sie sich gehalten. Eine Million Euro zusätzliche Entwicklungsgelder hat die deutsche Staatssekretärin Uschi Eid mitgebracht, um der Mongolei zu helfen, eine Gerichtsbarkeit aufzubauen, die so funktioniert, wie man das kennt. Im Westen.

Ein halbes Dutzend Geier säumt die Route des Jeeps, nahe einer Ziegenherde; ein Tier ist gestrauchelt. Wo sich die Spur verliert, sucht sich der mongolische Fahrer querfeldein seinen Weg. Mitten in der Weite der berggesäumten Steppe glitzert ein Solarkocher, eine Jurte mit Photovoltaikpaneel ist aufgebaut. Im Innern flimmert ein Fernsehapparat, ein Radio krächzt. Nomaden sind herbeigeeilt, besonders Jugendliche und Frauen. Gern lassen sie sich einweisen in die wunderliche Technik. Die betagte Mutter des mongolischen Instrukteurs hat mit einem Solarkocher eine kleine Privaterhebung gemacht. Die freut ihren Sohn und die beratenden GTZ-Leute. Herausgekommen ist nämlich, dass der Kauf sich lohnt, dass ein solches Gerät gute Dienste zu leisten vermag – ganz ohne Holz oder Mist zu verbrauchen. Aber nur von Frühjahr bis Herbst. Dann wird der kleine, runde Eisenofen inmitten jeder Jurte wieder zu seinem alten Recht kommen – als Mittelpunkt des Lebens. Kann er doch kochen und heizen, wenn es draußen so unerbittlich kalt ist.

Dieses Jahr, sagen die Leute, waren die sandfarbenen Heuschrecken vor dem Nationalfeiertag Naadam, zur Mittsommerzeit, da. Kein gutes Zeichen, Vorboten eines besonders langen Winters. Aber kalt, bitterkalt wird es so oder so werden. Zwischen 20 und 50 Grad minus. Und spätestens dann, wenn die Glut des Jurteofens verlischt, wenn selbst die Innenwände der Häuser in den Städten eiskristallen schimmern, wird es Zeit sein für so manchen Becher wasserhellen, wärmenden Milchschnapses. Denn dieser heiße mongolische Sommer ist, wie jeder, nur die kurze Spanne zwischen zwei Wintern. Sagen die Leute.

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