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Das Wasser steht bis zum Hals

Heute sollen die ersten Geiseln erschossen werden. Der russische Geheimdienst hält den Rebellenchef Aslan Maschadow für den Drahtzieher

aus Moskau KARSTEN PACKEISER

In dem Musicaltheater im Südosten Moskaus, in dem 700 bis 800 Menschen gefangen gehalten werden, spitzte sich die Lage gestern gefährlich zu. Die tschetschenischen Terroristen drohten damit, die Geiseln zu erschießen, wenn nicht bereits am heutigen Samstag alle Forderungen erfüllt sein sollten. Die Hinrichtungen würden um sechs Uhr morgens Moskauer Zeit beginnen. Insgesamt kamen im Verlauf des Freitags nach Bemühungen verschiedener Vermittler 15 Geiseln frei. Immer mehr Menschen in dem umgebauten Kulturpalast der Moskauer Kugellagerfabrik benötigten dringend ärztliche Hilfe.

Das Erdgeschoss des Theaters steht nach einem Rohrbruch inzwischen unter Wasser. Am Nachmittag brachte der Leiter der Moskauer Klinik für Katastrophenmedizin, Leonid Roschal, gemeinsam mit der Kriegsberichterstatterin Anna Politkowskaja Trinkwasser und Medikamente in das Theater. Erstmals durften den Gefangenen auch Lebensmittel übergeben werden. Zuvor hatten die Geiselnehmer dies kategorisch abgelehnt.

In der zweiten Nacht des Geiseldramas war gemeinsam mit Roschal erstmals auch ein Fernsehteam ins Innere des gekaperten Musicaltheaters gelangt. Der Sender NTW zeigte Bilder von den bis auf ihren Anführer Mowsar Barajew maskierten Terroristen und sechs gequält lächelnden Geiseln. Eine verschleierte Frau trug einen Gürtel mit Sprengstoff um den Bauch. Eine Erklärung der Geiselnehmer durfte jedoch auf Anweisung von Presseminister Michail Lessin nicht im Originalton ausgestrahlt werden. Barajew betonte, einziges Ziel der Geiselnehmer sei es, den Krieg in Tschetschenien zu beenden. Keineswegs sei die Massengeiselnahme die Rache für den Mord an seinem Onkel, dem berüchtigten tschetschenischen Feldkommandeur Arbi Barajew.

Die Forderung der Geiselnehmer, Angehörige der Gefangenen müssten Antikriegsdemos abhalten, erwies sich als teuflisch genial. Familienangehörige und Freunde der Geiseln zogen bereits am Morgen mit Plakaten auf die Straße, auf denen der Abzug der russischen Armee aus Tschetschenien gefordert wurde. Barajew hatte zugesagt, alle im Theater ausharrenden Kinder freizugeben, sobald er Bilder von einer Kundgebung auf dem Roten Platz sehe. Etwa siebzig Menschen versammelten sich um die Mittagszeit an der Basiliuskathedrale. Die Behörden machten ihre Warnung wahr, keine nicht genehmigten Kundgebungen in der Moskauer Innenstadt zu tolerieren. Mehrere Geiselangehörige wurden auf ein nahe gelegenes Milizrevier abgeführt.

Am Nachmittag konnten schließlich acht Kinder das Theater verlassen. Nach letzten Berichten soll es allerdings immer noch womöglich mehrere Dutzend weiterer Kinder in dem Zuschauerraum geben. Unklar ist, ob die Barajew-Kämpfer ihr Versprechen brachen oder sich die Eltern weigerten, ihre Kinder allein gehen zu lassen.

Die Sacharow-Witwe Jelena Bonner und andere bekannte russische Bürgerrechtler schlossen sich am Freitag den Forderungen nach Verhandlungen mit den tschetschenischen Kampfgruppen an. Dabei dürfe die russische Seite keine Vorbedingungen mehr stellen. Präsident Putin, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung, solle die Geiselnehmer ihrerseits zur Aufgabe auffordern und ihnen ein faires Gerichtsverfahren garantieren.

Wladimir Putin erklärte bei einem Treffen mit FSB-Chef Nikolai Patruschew, es sei das Ziel der Terroristen, Hass zwischen Russen und Tschetschenen zu säen. Der tschetschenische Anwalt und Menschenrechtler Abdullah Chamsajew sagte voraus, dass das Moskauer Geiseldrama den Krieg mit neuer Kraft anfachen werde.

Völlig ungewiss werde außerdem die Lage der Moskauer Tschetschenen, nachdem bereits Rufe nach Deportationen laut geworden seien, warnte Chamsajew, der im Mordprozess gegen den russischen Armeeobersten Juri Budanow die Eltern eines brutal getöteten tschetschenischen Mädchens vertritt. Aus der russischen Provinz wurden bereits erste Überfälle auf Tschetschenen gemeldet. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew überfielen Angehörige von Geiseln die Kioske tschetschenischer Kleinhändler.

In einem Interview mit dem Korrespondenten der Sunday Times erklärte Barajew, seine Kämpfer hätten ihre Mission erfüllt. Die Tschetschenen seien davon überzeugt, sie seien keine Terroristen, sondern „Mudschaheddin“, da sie weder Geld noch ein Flugzeug zur Flucht gefordert hätten, berichtete der Journalist nach seiner Rückkehr aus dem Theater.

Nach Angaben von Vizeinnenminister Wladimir Wassiljew ist inzwischen sicher, dass Rebellenpräsident Aslan Maschadow persönlich die Operation nicht nur angeordnet hat, sondern sie auch leitet. Geheimdienstler gaben bekannt, ihnen liege eine Videokassette vor, in denen Maschadow eine Operation ankündigt, die „die Geschichte des Tschetschenienkrieges verändern“ werde.

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