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Der tastbare Punkt

Kurzer Blick auf einen Blindenlehrer

von GABRIELE GOETTLE

Ich meinerseits möchte lieber, dass Emile seine Augen an den Fingerspitzen hätte als beim Lampenhändler.“ J. J. Rousseau

Gerhard Bacigalupo, Blindenlehrer a. d. Johann-August-Zeune-Schule f. Blinde i. Berlin-Steglitz. Herbst 1947 Einschulung i. d. Gritzner-Schule i. Berl.-Steglitz, ab April 1949 Mühlenau-Grundschule i. Berl.-Dahlem, ab Frühjahr 1953 Gertrauden-Oberschule, Abgang m. Mittlerer Reife März 1975. Beginn d. Lehre als Großhandelskaufmann April 1957 (i. d. Firma Autobedarf, Steglitz), Abschluss März 1960 m. d. erfolgreichen Ablegung d. Prüfung a. Industriekaufmann vor d. Industrie- und Handelskammer. Zusätzlich z. dieser Ausbildung Gasthörer v. Vorlesungen u. Seminaren a. Hochschulinstitut f. Wirtschaftskunde über Werbewirtschaft. Ab April 1960 Arbeit als Kaufmannsgehilfe i. d. Lehrfirma, zunächst i. Außendienst, später, bis März 1970, im Einkauf. Anfang 1967 Erblindung durch eine Netzhautablösung. Ab April 1969 Besuch d. blindentechnischen Grundausbildung. Danach Besuch d. Silex-Handelsschule f. Blinde i. Berl.-Steglitz bis April 1970, nach bestandener Abschlussprüfung spätere Berufstätigkeit als Stenotypist i. Gartenbauamt des Bezirkes Berl. Steglitz. Während dieser Berufstätigkeit zugleich Besuch v. Vorlesungen u. Seminaren a. d. Pädagogischen Hochschule Berl. zu d. Schwerpunkten: Programmierte Instruktion, Sensomotorisches Lernen, Pädagogik u. Psychologie sowie vier Stunden pro Woche Hospitant an d. Blindenschule. Zusätzliche Unterweisungen durch e. Ehepaar (das d. Blindenoberlehrer-Ausbildung m. Auszeichnungen bestanden hatte) in Blindenpädagogik u. d. Geschichte d. Blindenbildung. Januar 1974 Ablegung d. Fachlehrerprüfung m. gutem Ergebnis. Ab Febr. 1974 Tätigkeit als Fachlehrer a. d. Joh.-Aug.-Zeune-Schule f. Blinde, seit 1978 i. Klassenlehrerfunktion i. d. blindentechnischen Grundausbildung, Fachrichtung Wirtschaft u. Verwaltung (zusätzl. Verwaltung d. auditiven Medien u. Blindenhilfsmittel). Herr Bacigalupo wurde a. 15. Mai 1941 i. Berlin geboren als Sohn eines selbstständigen Kaufmanns, die Mutter war Büroangestellte, Herr B. ist verheiratet und hat zwei adoptierte Kinder, einen Sohn und eine Tochter, die Tochter ist blind.

Die Ausbildung und Förderung Blinder hat eine vergleichsweise kurze Geschichte. Bis ins 18. Jahrhundert herrschte in Europa die Auffassung vor, dass Blinde nicht bildungsfähig seien (bis auf einige ganz wenige Ausnahmen aus den oberen Schichten, die erstaunliche Fähigkeiten als Mathematiker oder gelehrte Frauen aufwiesen), sich allenfalls zum Betteln und zu musizierenden Almosenempfängern eignen. Blindheit war lediglich als Metapher erkenntnistheoretischen Philosophierens von Interesse. Berühmtestes Beispiel ist das sogenannte Molyneux-Problem. William Molyneux (1685–1735), irischer Naturwissenschaftler, Jurist, Gatte einer blinden Frau, stellte in einem Brief an John Locke die Frage, ob ein Blinder, der mit seinem Tastsinn gelernt hat, eine Kugel von einem Würfel zu unterscheiden, wohl in der Lage wäre, würde er sehend, rein mit dem Gesichtssinn, ohne Zuhilfenahme des Tastsinnes, Würfel- und Kugelform zu identifizieren. Locke hat das im Sinne seines Empirismus natürlich verneint. Die Frage löste eine nicht enden wollende philosophische Debatte aus, an der sich u. a. Berkeley, Voltaire, Diderot, Leibnitz und Kant beteiligten (und sie ist bis heute wirksam. Der Neurologe Oliver Sacks befasst sich eingehend damit in seiner Schilderung eines sehend gewordenen Blinden, der nicht mal die eigenen altbekannten Haustiere voneinander unterscheiden konnte per Augenschein. Weil er sie dauernd verwechselte, tastete er sie zur Sicherheit weiterhin ab und nur so erlangte er Gewissheit, ob es der Hund oder die Katze war, die er sah).

Ganz in diesem Sinne argumentierte Diderot bereits 1749 in seiner Schrift „Lettre sur les aveugles à l’usage de coux qui voient“ (Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden). Dadurch, dass er sich, statt die Debatte vorschriftsmäßig fortzusetzen, mit den Erfahrungen realer Blinder auseinander setzte, eine Art ersten blindenpsychologischen Versuch wagte (in dem die Unzulänglichkeit der Sehenden eine zentrale Rolle spielt), setzte er der rein philosophischen Kontroverse ein Ende. Eine enorme Provokation stellte seine Behauptung dar, Blinde seien bildungsfähig. Damit hat er für die Blinden mehr getan als andere vor ihm.

Dennoch dauerte es fast 40 Jahre, bis sich die kühne Behauptung durchsetzte. Am Vorabend der Französischen Revolution entschloss sich die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Paris aufgrund von Beweisen dazu, die Bildbarkeit Blinder anzuerkennen und ihre schulische Unterrichtung zu empfehlen. Valentin Haüy, Sprachwissenschaftler, Dolmetscher des Königs und pragmatischer Philantrop, hatte die Beweise erbracht. 1784 gründete er, finanziert von der Philantropischen Gesellschaft, die erste Blindenschule der Welt. Mit öffentlichen Vorführungen der Fortschritte seiner Schüler überzeugte er immer erneut die Zweifler und die wechselnden Geldgeber der neuen politischen Verhältnisse. Aus dieser Schule in Paris ging auch die heute in aller Welt gebräuchliche tastbare Punktschrift für Blinde, die Braille-Schrift, hervor. Seltsamerweise basiert sie auf einer militärischen Geheimschrift, erfunden von dem französischen Oberst Charles Barbier. Dieser Punktecode bestand aus 12 Punkten und bildete die 36 Grundlaute der französischen Sprache nach. Barbier überließ sie der Blindenschule zum Gebrauch, wo man sie aber zu schwerfällig fand und lieber weiterhin reliefgeprägte Schrift benutzte. Luis Braille, Schüler dieser Schule, entwickelte 1825 (mit 16 Jahren) eine Punktschrift, er reduzierte die 6 x 2 auf 2 x 3 Punkte, setzte statt der Laute Buchstaben und konnte so mit 64 Punktkombinationen das gesamte Alphabet darstellen, und auch eine Notenschrift für Musik. Er wurde Blindenlehrer, 1837 erschien sein erstes Lehrbuch, das erste gedruckte Buch in Blindenpunktschrift.

Es dauerte noch weitere 40 Jahre, bis sich die Braille-Schrift in Europa gegen den Widerstand der sehenden Blindenpädagogen durchsetzte. In Deutschland erst per Beschluss auf dem Blindenlehrerkongress 1879 in Berlin (in den USA erst 1917). Zu dieser Zeit gab es weltweit 138 Blindenschulen (Europa und Nordamerika), und das pädagogische Ziel war, die Blinden zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, was in der Regel hieß, vor allem ihre rein mechanischen Fähigkeiten und ihre Schicksalsergebenheit zu trainieren. Sie sollten ja zu ihrem Unterhalt beitragen, und in den typischen Blindenberufen wie Seiler, Schleifer, Korb-, Besen- und Bürstenmacher, Mattenflechter, Strickerin, Klöpplerin, Peitschenflechterin usf. hätte sich die überflüssig erworbene Bildung gar nicht nutzen lassen. Ironischerweise hat der Erste Weltkrieg viel mehr an Emanzipation für die Blinden bewirkt als die stagnierende Anstaltspädagogik. Die Kriegsblinden mit ihrer Lebenserfahrung und ihrem Anspruch auf Rehabilitation gaben sich natürlich nicht zufrieden mit oben beschriebenen Beschäftigungen, sie drängten in neue Tätigkeiten wie Stenotypisten, Phonotypisten, Kaufleute, Musiker, Masseure, sogar Industriearbeiter wurden sie und Akademiker. Neue Techniken und Hilfsmittel wurden entwickelt, alte verbessert, neue Bücher wurden gedruckt für die Zentralbücherei für Blinde in Leipizig (gegr. 1894), und die gelbe Blindenbinde mit den drei schwarzen Punkten wurde eingeführt als Verkehrszeichen, sie ist zugleich Indiz dafür, wie viele Blinde in der Öffentlichkeit zirkulierten. Das Tragen der Binde ist bis heute im Straßenverkehr Vorschrift für Blinde ohne Begleitperson.

Die Zwangssterilisation der Blinden durch die Nazi-Gesetzgebung ist bekannt, nicht so bekannt ist, wie man auch die Blinden ideologisch indoktrinierte, beispielsweise durch Rassenkundeunterricht. In der Joh.-Aug.-Zeune-Schule (gegr. 1806) gab es im Lehrmittelkabinett spezielle Gipsköpfe zum Ertasten der sog. nordischen, dinarischen und negroiden Rassenmerkmale. Die soziale Lage der Blinden bekam erst in der Nachkriegszeit wieder einen Entwicklungsschub, vor allem durch stetig sich verbessernde gesundheitliche Versorgung, umfangreichere soziale Absicherung und die technische Verbesserung der Hilfsmittel für Blinde. Heute gibt es zahlreiche, sehr nützliche Schreib- und Lesehilfsgeräte (die Punktschriftschreibmaschine wurde bereits 1909 von Oskar Picht, Lehrer der Zeune-Schule, entwickelt).

Seit Mitte der 80er-Jahre benutzen Blinde auch die Computertechnik zum Schreiben und Lesen. Eine taktile Braille-Zeile, versehen mit beweglichen, elektronisch gesteuerten Stiften, gibt den Inhalt der jeweiligen Bildschirmzeile wieder. Auch synthetische Sprachausgabe ist möglich und ebenso Ausdruck in Punktschrift, Blinde und Nichtblinde können ein- und denselben Computer benutzen. Es gibt Ultraschallstöcke zur Orientierung, aber es gibt in Deutschland, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern (besonders zu Frankreich), noch immer zu wenig blindengerechte Verpackungen oder auch Ampelanlagen. Bei der eben stattgefunden habenden Bundestagswahl konnten Blinde erstmals selbstständig und geheim wählen mittels einer Schablone. Bisher musste dazu eine zur Geheimhaltung verpflichtete Hilfsperson in Anspruch genommen werden.

Herr Bacigalupo, der von all dem unmittelbar betroffen ist, wohnt im Süden Berlins, in einer Eigenheimsiedlung aus den 50er- und 60er-Jahren. In der Straße stehen Birken, sein Haus ist hell verputzt, die Fenster sind gardinenlos, im kleinen blühenden Vorgärtchen steht eine DDR-Naturschutzeule. Wir werden von dem Ehepaar gemeinsam ins Haus gebeten. Er trägt helle Jeans, ein weißes T-Shirt, benutzt den Blindenstock und drückt uns dynamisch die Hand. Sie, etwas größer als er, graumeliert, mit Pagenfrisur, trägt Hosen und wirkt darin mädchenhaft schlank und schlacksig. Wir folgen den beiden unter Hinterlassung unserer Schuhe hinauf in den ersten Stock. Die Wände des Treppenhauses sind inkrustiert mit Eulen, Sammelstücke aus allen erdenklichen Materialien, in allen Formen. Auch im großen, hellen Wohnzimmer, das ansonsten, mit Sesselgruppe aus Leder, Standuhr, Anrichte, Schrankwand und Regalen eher funktional eingerichtet ist, dominieren Eulen. Eulen aus Plüsch in den Regalen, Eulenmobiles, Eulenfigürchen. Herr Bacigalupo eilt geschickt um den Tisch herum, bevor wir alle uns setzen. Hinter dem Paar an der Wand hängen drei Eulenbilder. Frau Bacigalupo hegt diese Leidenschaft für das Tier mit den übergroßen, scharfen Augen. 3.300 Sammelstücke sind bereits zusammengekommen. Herr Bacigalupos Leidenschaft hingegen befindet sich im Hobbyraum des Kellers. Es ist eine große, weitgehend von ihm selbst aufgebaute Modelleisenbahnanlage, mit vielen Locks und Wagen und einem Punktschriftaufkleber auf allem fürs Identifikations- und Ordnungssystem. Er liebt aber auch sehr das Hören von Musik, besonders von alten Schellackplatten, und er liest gern. Oben unter dem Dach hat er sein Reich voller Bücher, ein Arbeitszimmer mit Oberlicht, Pflanzen, großen Studio-Tonbandgeräten, Plattenspieler, einen Arbeitsplatz mit Computer, Drucker, Schreibmaschinenschrank, davor ein Kniestuhl mit Nackenstütze. Alles ist akribisch geordnet.

Auf die Frage, ob sie auch die Blindenschrift gelernt habe, sagt Frau Bacigalupo zögernd: „Ja, aber nur Vollschrift, mein Mann benutzt ja Kurzschrift.“ Herr Bacigalupo räuspert sich und erklärt, während sie uns allen Kaffee einschenkt und ihm genau mitteilt, wo seine Tasse steht: „Alles, was Sie an Büchern und Zeitschriften für Blinde zu kaufen kriegen, ist üblicherweise in Kurzschrift. Also Bücher für Erwachsene werden sie kaum irgendwo in Vollschrift kriegen. Weil Punktschrift eben viel mehr Platz braucht als Schwarzschrift – also das ist die, die sie lesen –, hat man schon recht früh, so 1875, durch Kürzungen reduziert, aber es ist immer noch wesentlich mehr Platz erforderlich. Sie können rechnen: 1:25. Am Beispiel des Dudens wird es besonders deutlich, wie notwendig die Kurzschrift ist. Das sind in Kurzschrift 27 Bände, jeder so in der Größe eines Leitzordners. Trotzdem ist der Platzbedarf gegenüber der Vollschrift um ein Drittel geringer etwa. Ist natürlich immer noch mehr als Schwarzschrift, und dicker ist das ganze Buch ja auch schon deshalb, weil das Papier fürs Relief der Punkte viel stärker sein muss. Ja, ein weiterer Vorteil der Kurzschrift ist der, dass man viel weniger schnell ermüdet beim Lesen. Ebenso wie beim Sehenden die Augen, ermüden bei uns nämlich die Finger. Man liest ja eigentlich mit beiden Zeigefingern, der linke fängt die Zeile an, der rechte übernimmt ab der Mitte und während er die Zeile zu Ende liest, soll der linke schon wieder den Anfang der nächsten Zeile suchen. Also diejenigen bei uns, die es seit der ersten Klasse so gelernt haben, die lesen mich unter den Tisch, die können ohne Mühe annähernd so schnell und so lange lesen wie Sie mit ihren Augen. Aber diejenigen, die ihre Grundausbildung erst als Jugendliche oder Erwachsene machen, die schaffen am Anfang so etwa 15 Minuten, später eine halbe bis eine Stunde und das steigert sich dann erst ganz allmählich bis dahin, dass man sich ganz normal hinsetzt, um ein Buch zu lesen. Es sind übrigens nicht mal so sehr die Finger, die ermüden, sondern es ist der Tastsinn. Man tastet nicht mehr richtig, weiß nicht, ist das nun ein G, ein F oder ein D. Aber das ist eben alles eine Übungssache. Wir fangen bei den Kindern so in der 5. Klasse mit der Kurzschrift an. Im Moment unterrichte ich zwei Mädels – die werden Sie dann kennenlernen, wenn Sie zu uns in die Schule kommen –, beide sind jetzt soweit, sagte mir die Lehrerin. Alles, was es für sie zu lesen gab, haben sie gelesen. 300 Kürzel müssen sie nun lernen im Deutschen – in Englisch sind’s nur etwa 150 –, und sie müssen sie schon deshalb lernen, damit sie wieder was Neues lesen können.“ Eine trillernde Vogelstimme ertönt. „Die nächste geht gleich hinter ihnen los“, sagt Herr Bacigalupo. Sie ergänzt: „Wir haben eine Menge Uhren …“ Dann schlägt und spielt und trillert es nach- und durcheinander, zum Schluss ertönen sehr getragene Schläge mit Hall. Die Uhr hinter uns hat Eulenform und bewegt mit dem Ticken die Augen.

„So viel zur Kurzschrift“, sagt Herr Bacigalupo. Ich nehme meinen verlorenen Faden wieder auf, möchte gern wissen, wie er zur Schule gelangt. „Meine Frau ist in der Regel so nett und bringt mich, nachmittags fahre ich meist mit dem Bus nach Hause und benutze eben meinen Stock – nicht diesen, den ich hier benutze“, er streckt ihn uns entgegen, „der wird so etwa 1,20 Meter haben, der mit dem ich auf der Straße laufe, ist noch mal um 20 Zentimeter länger. Die machen wir uns übrigens selber, bzw. meine Frau macht sie mir, sie sind aus Bambus – die offiziellen Stöcke sind deutlich schwerer – und meine Frau beklebt sie dann mit weißem Tesaband. Den benutze ich zu Hause. Sobald Besuch kommt, laufe ich mit Stock. Die Kinder bei uns in der Schule laufen übrigens alle ohne Stock rum, sogar die Großen gehen ohne. Ich finde das nicht so richtig. So genau kann man seinen Bau gar nicht kennen! Und draußen, da geht es natürlich nur mit Stock. Da muss ich dann eben genau aufpassen, wohin ich gehe, denn es kann immer was sein, was am Vortag noch nicht da war. Ich tippe ja mit jedem Schritt, oder mit jedem zweiten Schritt vor mich, da merke ich auch an der Art, wie der Stock auftippt, ob er auf Pflaster oder auf Sand auftippt, das gibt mir ja Hinweise, und ich merke auch, wenn das glatt ist, ob das Beton oder Asphalt ist oder sonst was. Wenn ich jetzt, sagen wir, auf dem rechten Bürgersteig laufe und ich hab vor mir eine Baustelle, dann versuche ich erst mal, vermutlich, nach links wegzukommen. Aber es kam auch schon mal vor, dass ich gepennt habe, da war eine Baustelle, ich habe die Absperrung nicht erkannt und war dann plötzlich unten. Es war weich und weiter nicht schlimm. Nur eben unangenehm.“ Sie wirft ein: „Das war ja noch nicht das Schlimmste …“ Er sagt lächelnd: „Ich bin früher U-Bahn gefahren, und einmal, ich war mit Schülern unterwegs, und wir haben herumgealbert, und rums, lag ich plötzlich auf den Schienen, und das tat auch richtig weh …“

Sie bemerkt ironisch: „Wenn man mit seinen Schülern ein Wettrennen macht, muss man mit so was rechnen!“ Er wendet ihr das Gesicht zu, lacht und sagt zu uns gewandt: „Na ja, aber das zweite Mal gab’s kein Wettrennen, da ist es mir auf demselben Bahnhof abends wieder passiert. Ich war relativ müde, es war nach einer Konferenz, es war so sieben. Der Zug fuhr ein und dann war da eben die Lücke, wo ich dachte, das ist die Tür in den Wagen … aber es war die Lücke zwischen zwei Wagen. Gesehen hat das keiner. Ich bin wieder allein, nur schneller, da rausgekommen. Ich hatte schon gehört, dass der ,Abfahren‘ gesagt hatte. Wir wollten eigentlich an dem Abend tanzen gehen, aber das konnten wir uns abschminken.“ Sie sagt trocken: „Und er hatte dann auch noch irgendwelche Blessuren …“ „Ich war eben müde“, sagt er etwas trotzig, „und da habe ich einfach nicht kontrollgetippt, ob da der Boden ist oder nicht, wo ich einsteigen will. Aber das sind vermeidbare Unfälle, die wirklich gefährlichen Hindernisse, das sind solche in Kopfhöhe, wie die Außenspiegel der BVG-Busse und auch die hydraulischen Ladeflächen der Lastwagen. Ich hab’s auch mal mit Ultraschall probiert, aber das zeigt ja jeden Zweig an, der zehn Zentimeter über mir hing. Also ich komm mit meinem Stock sehr gut zurecht, nicht meisterlich vielleicht, aber es geht!“

Die ganze Zeit während er sprach, schienen beide Augen uns anzuschauen, er richtete sie auf das Gesicht des jeweils Fragenden, sein Blick wirkte lebhaft, Anteil nehmend. Wir äußern unsere Verwunderung und fragen, welches von beiden eigentlich das Glasauge ist. „BEIDE“, sagt er lakonisch. „Ich dachte, es ist das linke“, erkläre ich etwas betreten. „Ja, ist richtig! Aber das rechte auch!“, sagt er mit ironischem Unterton. Alle brechen in Lachen aus. „Das Auge wird ja normalerweise von zwei Muskeln bewegt“, erklärt er mit fester Stimme, „die sind in Rudimenten immer noch vorhanden und führen sozusagen die künstlichen Augen noch mit. Nicht so gut wie im Originalzustand, aber ausreichend, wie es scheint.“ Er lächelt listig. Unsere Frage, wie es denn eigentlich zur Erblindung kam und wann, wird von den diensteifrig schlagenden und spielenden Uhrwerken untermalt. Zum Ton des hallenden Gongs der Standuhr berät sich das Paar, ob es mit 25 oder 26 war. „Mit 26“, sagt Herr Bacigalupo, „1967, es ist schon so lange her. Der Grund war eine Netzhautablösung. Dazu kam noch eine Wucherung am Rand der Sehöffnung, die durch eine Staroperation entstanden war, die wollten sie erst entfernen. Diese Operation hat das Auge nicht überstanden. Und ich hatte nur noch dieses eine Auge. Das andere Auge war ich schon früher als Kind losgeworden. Es war wohl grüner Star, ich weiß nur noch, das Auge haben sie mir mit vier oder fünf rausgenommen. Es war ein ziemlich trüber, nebliger Tag irgendwo am Anhalter Bahnhof. Es wurde ambulant gemacht, man hatte wohl 1945 keine Betten übrig … Also, ich kann mich nicht erinnern, dass mich das sehr getroffen hat. Es hat sich an meiner äußeren Situation nichts geändert, auf dem Auge konnte ich ja schon vorher nicht sehen. Ich bin mit einem Augenpflaster reingegangen, und ich bin mit einem Pflaster überm Auge wieder rausgekommen. Unangenehmer war, was später kam. Wenn Sie in einer normalen Schule sind und schlecht sehen, dann werden Sie leicht das Opfer, das gehänselt wird. Und das Nächste war dann die völlige Erblindung, das war natürlich … ich hatte damit gar nicht gerechnet. Zum Glück war ich schon verheiratet, 1962 haben wir uns kennengelernt … Also ich denke, wenn ich meine Frau nicht gehabt hätte“, er wendet ihr einen Moment lang konzentriert das Gesicht zu, „ich glaube nicht, dass ich mit der Geschichte … dass ich da so gut durchgekommen wäre!“ Sie lächelt ihn an und sagt: „Na ja … wer weiß, jedenfalls, wir waren jung, beide. Natürlich hatte ich mir nicht vorgenommen, mit einem blinden Mann verheiratet zu sein, meinen Beruf aufzugeben, damit uns das Jugendamt die Kinder adoptieren lässt, aber ich kann sagen, wir haben versucht, das Beste für uns alle daraus zu machen.“

Das scheint gelungen. Einen verlegenen Moment lang schweigen alle, irgendwo bellt ein Hund. „Als ich 1969 mit der blindentechnischen Grundausbildung an der Joh.-Aug.-Zeune-Schule angefangen habe, da war ich froh und stolz, dass ich wieder lesen konnte und Blindenschrift schreiben. Aber damals hätte ich nie gedacht, dass ich dort eines Tages mal Lehrer sein würde.“ Sie sagt: „Und ein guter Lehrer, die Schüler lieben meinen Mann … unsere Erwartungen allerdings waren damals ja andere, und es hat uns hart getroffen, als der Schwiegervater gesagt hat, dass er das Geschäft verkauft. Mein Mann sollte das ja an sich übernehmen, und wir hatten beide gedacht, dass wir das zusammen managen …“ „Ach ne, komm!“ sagt Herr Bacigalupo. „Ich habe mir irgendwann klargemacht, dass ich eigentlich ganz zufrieden sein kann. Ich kann sagen, als Lehrer fühle ich mich wirklich wohl, die Arbeit macht mir immer noch Freude. Als Kaufmann würde ich mich heute bestimmt nicht so wohl fühlen, ja!! Ich wäre abhängig von der Geschäftslage, müsste bangen, kommen genug Kunden oder nicht, bleibt genug übrig, kannst du die Unkosten nächsten Monat zahlen oder nicht, sind die Angestellten ehrlich? Das wäre kein Leben. Insofern … Ich habe mir das nicht ausgesucht mit der Blindheit, aber wenn’s nun schon so gekommen ist, kann ich sagen, also … es hätte mir nicht besser passieren können!“

Zehn Tage später besuchen wir Herrn Bacigalupo im Unterricht. Die Schulgebäude liegen in einem großen alten Park. Wir finden alles vor, wie von ihm beschrieben: den neuen Anbau am Backsteingebäude, die soundso viel Stufen nach oben, den langen Flur, und hinter der letzten Tür rechts sein Klassenzimmer. Es ist ein großer, sonniger Raum mit hohen Fenstern, davor die Zweige der Lindenbäume, in denen die Vögel zwitschern. Die Schüler sitzen an schmalen, hintereinander folgenden Tischen, auf denen Schreibgeräte stehen. Wir werden einander vorgestellt. Drei Schüler, junge Männer allesamt, sind anwesend: ein Russe, ein Türke kurdischer Abstammung und ein Deutscher, der in Amerika aufwuchs. Ein Schüler fehlt. Wir nehmen hinten Platz und der Untericht wird fortgesetzt. Herr Bacigalupo sitzt hinter seinem Pult, hat das Uhrenglas offen stehen und tastet ab und zu nach der Zeit. An der Wand hängt ein Plakat, die Haken an der Garderobe zeigen nach innen und haben eine Blende, wohl um Verletzungen zu vermeiden. Ein surrendes, schleifendes Geräusch ist zu hören. Alle scheinen uns vollkommen vergessen zu haben. Plötzlich wird klar, wie ungeheuer erleichternd die Abwesenheit des sozial kontrollierenden Blickes ist und dass der, der von uns ausgeht, keinerlei Resonanz findet.

„Wie Nase oder wie Mutti?“, fragt Herr Bacigalupo. „Mit Nase“, sagt der Schüler, „ich habe IHN über alles unterrichtet.“ – „Richtig“, sagt Herr Bacigalupo lobend, „der Nächste bitte!“ Der Schüler räuspert sich: „Er ging in ersten Morgen … äh … Grauen … aus dem Hause. Aus DEM, mit Mutti!“ „Ja“, sagt Herr Bacigalupo geduldig, „und nun davor, er ging in oder im ersten Morgengrauen?“ – „Mutti!“, ruft der Schüler aus, „IM!“ Die Schüler tasten konzentriert an ihren Lesegeräten und tippen in ihre Punktschriftmaschinen. Sie üben Punktschrift und deutsche Rechtschreibung, bis es zur Pause läutet. Sofort erheben sich die jungen Männer und verlassen grüßend und ohne Verwendung eines Stockes zügig den Raum. Herr Bacigalupo schließt das Deckglas seiner Uhr und sagt in unsere Richtung: „Also das ist eine spezielle Anlage hier, die Tische haben alle eine Braille-Zeile, auf die ich, vom Lehrertisch aus mit meinem Datenträger, die jeweiligen Vorlagen und Aufgaben übertragen kann. So eine Braille-Zeile kostet übrigens um die 10.000 Euro. Und das Geräusch, das sie hören, das ist der Zeilenwechsel. Es entsteht, wenn man eine Zeile gelesen hat und will die nächste haben, dann wechseln nämlich die Punkte … es sind eben noch elektromechanische Braille-Zeilen, die wir hier haben.“ Wir folgen ihm und seinem tippenden Stock über den spiegelblanken Flur zu seinem Lehrerzimmer.

Der Raum ist klein und angefüllt mit Arbeitstischen und blindentechnischen Schreib-Lese- und Kopiergeräten, mit Computer und Drucker, mit Regalen voller Ordner und Material. Schnell wie ein Eichhörnchen erklimmt Herr Bacigalupo eine hohe Aluleiter, wählt einen Ordner mit Hilfe der Blindenschriftkennzeichnung und ist schon wieder unten. „So, da trage ich ein, was ich heute aufgegeben habe und dergleichen, auch dass ein Schüler fehlte … Sagte ich übrigens schon, dass im Blindenunterricht nach der Vorschrift maximal sechs Schüler unterrichtet werden?“

Zwei Mädchen in leichten Sommerkleidern, etwa elf oder zwölf Jahre alt, betreten den Raum, begrüßen den Lehrer und auch uns, nachdem ihnen unsere (bereits angekündigte) Anwesenheit mitgeteilt wird, dann tasten sie sich geschickt zu ihren Arbeitstischen. „Wir üben Kurzschrift“, sagt Herr Bacigalupo zu uns gewandt und beginnt dann seinen Unterricht, der schnell, witzig und wie ein Spiel gestaltet ist. Aber es vibriert auch ein scharfes Bewusstsein davon mit, dass es hier ums Leben geht, für das gelernt wird; mehr als an irgendeinem anderen Ort. Herr Bacigalupo fragt: „So … Defekt. I., willst du mal bitte?“ I. antwortet spontan: „Defekt wird großgeschrieben!“ B.: „Tutti, richtig! Mit K oder CK?“ I. fast beleidigt: „Mit K!“ B: „Gut! So, und nun zur dir, A., wie kürzt man ‚schwierig‘? A. die ausgelassener reagiert als die verschlossener wirkende I., antwortet lachend: „Ist nicht schwierig: S-C-H-I-G.“ B.: „Na also! ‚Republik‘?“ A.: „R-K.“ B.: „Und bei ‚Politik‘ ist‘s genauso, aber wie ist es bei ‚politisch‘, liebe I,?“ I.: „..S-H!“ B.: „Wie wär’s denn mit P-H, junge Frau?! Jetzt wieder mal A.! Am Ende jedes Satzes steht ein Punkt, also ‚jedes‘?“ A.: „J-D-S.“ B.: „Stimmt! Und ‚Satzes‘, liebe I.?!“ I., überrascht, schon wieder dran zu sein, sagt zögernd: „S…Z-S-E?“ B.: „Tutti! Und ‚Punkt‘, du darfst, A.“ A., etwas unkonzentriert, sagt lächelnd: „P-H?“ B.: „Na, P-H ist ‚Philosoph‘!“ A.: „P-K hab ich gemeint.“ B., in ruhigem Tonfall: „… ist ‚Politik‘. Junge Frau, es ist in 75 Prozent aller Fälle das erste und das letzte Zeichen eines Wortes, wie ist das nun bei ‚Punkt‘?“ A. freudig: „P-T!“ B.: „Na sehnse mal … gut!“ A. seufzt und sagt: „Herr Bacigalupo, das ist wirklich eine schwere Geburt, wissen Sie!!“ Er antwortet fröhlich: „Oh ja!! Ich kann darüber reden, junge Frau, ich muss es schon viel länger erdulden …“ Anschließend wird der Stoff noch mal in Diktatform geübt und von den Mädchen in die Blindenschriftmaschinen getippt bis zum Ende des Unterrichts. Dann erheben sie sich, murren leise über die Hausaufgaben und tasten sich mit den Händen schnell davon.

Für heute ist der Unterricht für Herrn Bacigalupo beendet. Er nimmt unser Angebot, ihn nach Hause zu fahren, gern an. Nachdem er die Klassenbücher zurückgestellt hat ins Regal, ergreift er seinen Stock und geht uns energisch voran, stürmt mit großer Gewandtheit und einem grimmigen Streben nach Unabhängigkeit die Treppen hinab, eilt durch den Park, so dass wir Mühe haben, ihm zu folgen. Vor dem Einsteigen tastet er unser Auto mit dem Stock ab. Zu Hause angekommen, steigt er ohne Hilfe aus, verabschiedet sich in knapper Form und winkt dann noch einmal kurz, bevor er in sein Haus tritt.

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