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Die Befreiung brachte den Tod

Der Gasangriff auf die tschetschenischen Geiselnehmer von Moskau rettete wohl vielen das Leben – und tötete Rebellen und mindestens 116 Geiseln

aus Moskau KARSTEN PACKEISER

„Wir haben alle auf den Tod gewartet. Es war klar, dass sie uns nicht freilassen. Die Frauen unter den Terroristen haben uns immer gesagt, dass sie zum Sterben gekommen seien, dass sie zu Allah wollten und dass sie uns auf diesem Weg mitnehmen wollten.“ Nach dem Sturm des Sondereinsatzkommandos Alpha am frühen Samstagmorgen auf den Moskauer Theatersaal schilderte die dort mit über 700 anderen Musicalbesuchern festgehaltene Journalistin Olga Tschernjak die Situation während der 57 Stunden, die sie in der Hand tschetschenischer Rebellen war. Der befürchtete Einsturz des Kulturhauses oder lange Feuergefechte während der Befreiungsaktion blieben aus. Nur eine Geisel starb an Schußwunden. Aber viele der nach zweieinhalb Tagen durch extremen Stress, Schlaflosigkeit, Hunger und Durst geschwächten Geiseln überlebten die Gasattacke nicht. Am Samstagabend gab das Gesundheitsministerium die Zahl der Toten mit „über 90“ an. Am Sonntag war von 167 Toten die Rede – 117 Geiseln und 50 „anderen“. Wegen der hohen Zahl von zivilen Opfern wurde schon Kritik an der riskanten Befreiungsaktion laut.

Nach offiziellen Angaben von Vizeinnenminister Wladimir Wassiljew verlief die Befreiungsaktion „nicht ganz nach Plan“. Die Entscheidung zum Sturm sei notgedrungen erfolgt, nachdem die Terroristen in der Nacht damit begonnen hatten, Geiseln zu erschießen. Daraufhin hatte, so die offizielle Version des Geschehens, eine größere Gruppe der Geiseln versucht, aus dem Gebäude zu fliehen. Einigen Menschen gelang es, bis auf den Platz vor dem Theater hinauszulaufen.

Der Plan für den Sturm hatte zu diesem Zeitpunkt schon bereitgelegen und war wohl auch im Kreml abgesegnet worden. In der Nacht hatte als letzter Emissär des Krisenstabs Expremier Jewgenij Primakow im Nord-Ost-Theater noch einmal erfolglose Verhandlungen mit den Geiselnehmern geführt.

Einer der Antiterrorkämpfer berichtete anonym einer Moskauer Zeitung, es sei am Freitagabend bewusst eine Falschinformation über einen um drei Uhr nachts anstehenden Sturmangriff in Umlauf gebracht worden (siehe Kasten). Dazu benutzten die Geheimdienstler offenbar bereits enttarnte „Melder“ der Terroristen hinter den Absperrungen.

Dass kurz vor der Gasattacke zwei Geiseln vor den Augen der anderen erschossen wurden, wurde inzwischen von mehreren Leidensgefährten bestätigt. Eine davon sagte im Krankenhaus, der Gaseinsatz sei absolut richtig gewesen. Sonst hätten die Terroristen das Theater gesprengt.

Über die Belüftungskanäle des Theatersaals eingeleitet, schläferte das geheimnisvolle Betäubungsmittel die Geiselnehmer ein, bevor sie ihre im Theater verteilten 50-Kilogramm- Sprengsätze zünden konnten. Eine befreite Geisel berichtete später, die Terroristen hätten einen möglichen Einsatz von Betäubungsgas vorhergesehen, es aber nicht mehr geschafft, die bereitgehaltenen Masken aufzusetzen. Nach dem sie einige Momente von krampfhaften Zuckungen geschüttelt wurden, seien die Terroristen zu Boden gestürzt.

Anschließend stürmte das Sondereinsatzkommando das Gebäude. Die Antiterrorkämpfer sprengten ein Loch in die Außenwand des Theaters. Teilnehmer der Operation berichteten später, sie seien sich beim Anblick des unerträglich stickigen und stinkenden Zuschauersaals nicht mehr sicher gewesen, ob dort überhaupt noch jemand am Leben war. Bereits wenige Minuten später trugen und schleiften die Sturmtruppen die ersten betäubten Geiseln aus dem Theater, zuallererst diejenigen, die nach leichten Schlägen auf die Wange Lebenszeichen abgaben. Die verschleierten Terroristinnen mit ihren mit Sprengstoff und Metallteilen gefüllten Kamikazegürteln wurden mit gezielten Kopfschüssen liquidiert.

Ein Teil der Geiselnehmer, der sich zum Zeitpunkt des Sturms im Foyer aufhielt, war von dem Schlafgas nicht betäubt worden. Die Terroristen leisteten den Alpha-Kämpfern teils heftigen Widerstand. Etwas über eine Stunde nach dem Beginn des Sturms meldete der Krisenstab schließlich, man habe das Gebäude des Theaters vollständig unter Kontrolle. Dutzende Krankenwagen transportierten die betäubten Geiseln in die Kliniken der Hauptstadt.

Die russischen Behörden bewahrten bis Sonntagabend eisiges Schweigen darüber, welches Schlafgas bei der Kommandoaktion eingesetzt wurde. Inzwischen teilten Moskauer Gesundheitsbehörden mit, es habe sich um ein übliches Narkosegas gehandelt, das jedoch in Überdosis zu „Störungen der Körperfunktionen“ führen könne. Die Nachricht ist mit Vorsicht zu genießen: Moskau will die Methoden der Terrorbekämpfung nicht offen legen – und sich auch nicht dem Vorwurf aussetzen, international verbotene Kampfstoffe einsatzbereit zu halten.

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