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Bildung braucht Vertrauen

Eine internationale Studie nach der anderen zeigt die Schwächen der deutschen Schulen – doch die Bildungspolitiker der Republik ziehen daraus die falschen Konsequenzen

Die Respekt heischend dicken Lehrpläne werden von den Lehrern kaum gelesen

Nach dem Pisa-Desaster erzielt Deutschland nun auch im OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick“ wieder miese Ergebnisse. Es wird wohl erst mal so weitergehen mit den schlechten Noten für unser Land. Denn die Analytiker der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die auch schon die Pisa-Studie durchführten, beobachten die langfristigen Entwicklungen. Fünfzehn Jahre brauchen Reformen, um wirksam zu werden, schätzt Andreas Schleicher, der Chefanalytiker für Bildung im Think-Tank der Industrieländer.

Betrachtet man die Bildungsaktivitäten der Länder, die erfolgreich bei der Pisa-Studie abschnitten, lässt sich dort ein in den 80er-Jahren begonnener Paradigmenwechsel ausmachen: Sie entschieden sich für mehr Selbstständigkeit der Schulen und Hochschulen. Dafür konnten die Bildungseinrichtungen dort eine reiche Ernte einfahren. Der Aufstieg in der Wirtschaft folgt. Das ist das erste aufregende Ergebnis des internationalen Bildungsberichts.

Verbesserungen im Humankapital tragen einen halben Prozentpunkt zum Wirtschaftswachstum bei. Geld für Bildung ist kein Konsum – es handelt sich um Investitionen. Bildung bringt eine höhere Rendite als die Bank – das gilt für den Einzelnen, für den sich in Deutschland die Investition in ein Studium mit acht bis neun Prozent verzinst. Und erst recht für die Volkswirtschaft.

Die gute Nachricht der Studie: Bildung wird zur wichtigsten Produktivkraft in modernen Gesellschaften. Die schlechte Nachricht: Die Deutschen haben das noch nicht so richtig verstanden. Wenn die Deutschen lesen, dass in Finnland 71 Prozent der jungen Leute ein in der Regel wenigstens vierjähriges akademisches Studium absolvieren, dann sagen sie: Was sollen die denn später alle machen? Wer macht denn dann die Arbeit? In der Bundesrepublik studieren 30 Prozent der Jugendlichen; damit ist Deutschland im internationalen Vergleich fast Schlusslicht. Im Schnitt beginnen in anderen Industrieländern 45 Prozent ein Studium, 50 Prozent mehr als in Deutschland.

Traditionell setzen die angelsächsischen und skandinavischen Länder auf die Förderung von Humankapital. In Deutschland hingegen wurde und wird immer noch nach dem Bedarf gefragt. Ein fataler Unterschied, der nur wie eine akademische Spitzfindigkeit aussieht. Gemessen am vermeintlichen Bedarf kam man in Deutschland bisher schnell zu der Botschaft an die nachwachsende Generation: Eigentlich brauchen wir euch nicht. Die erfolgreichen Länder aber machen den Nachwachsenden Mut: Ihr seid gut und könnt mehr aus euch und aus unserem Land machen.

Der Glaube an eine offene Zukunft ist ebenso eine Produktivkraft wie der Stolz auf das, was man kann. Die durchaus pragmatischen Finnen und Schweden sehen eine gute Ausbildung als einen Generator für eine erfolgreiche Zukunft. Das verlangt Vertrauen. Die gehorsamen Deutschen versuchen immer noch, einer Prognose, einem Bedarf, also einer Zukunft, die sie zu kennen meinen, zu folgen. Damit wollen sie ihr Misstrauen und ihre Angst reduzieren und verspielen eine offene Zukunft. Diese Mentalitätstemperatur zeigt sich in der Gesellschaft nirgendwo deutlicher als in den Schulen. Sind es unterkühlte Wartehallen vor dem Leben oder gut klimatisierte Treibhäuser, die, weil sie ein Teil des Lebens sind, selbst Leben hervorbringen?

Neben der Entdeckung des Humankapitals ist die zweite wichtige Erkenntnis der neuen Studie, wie wichtig die Atmosphäre in Schulen ist. Schüler in Deutschland fühlen sich von ihren Lehrern zu wenig beachtet und unterstützt.

Etwas Drittes spielt eine wichtige Rolle: Von Schweden bis Kanada, von Finnland bis Neuseeland haben die Schulen Mitte der 80er-Jahre einen Paradigmenwechsel begonnen. Von der Input- zur Outputkontrolle. Inputorientierung bedeutet, der Staat wacht über den finanziellen und geistigen Zufluss. Er kontrolliert Finanzen und Lehrpläne. Im Extremfall, und der gilt in Deutschland, wurde auf die Beobachtung der Ergebnisse der Schule bisher verzichtet.

Wozu auch, wenn eh alles am Marionettenfaden der staatlichen Bürokratie hängt? Pisa war bekanntlich die Quittung für diese Missachtung. Das Umschalten von der In- zur Outputkontrolle fiel Ländern mit einer demokratischen Tradition und mehr Selbstvertrauen nicht schwer. Outputorientierung bedeutet, dass Schulen Ziele gesetzt werden. Über die Wege, diese zu erlangen, entscheiden sie selbst. Sie arbeiten seitdem eher unternehmerisch und nicht als nachgeordnete Behörden. In Schweden verwalten die Schulen ihren ganzen Etat. Sie stellen Lehrer ein und verhandeln mit ihnen über deren Gehalt. In Finnland wurde vor fünf Jahren der Rest von Schulaufsicht abgeschafft. Schulen, nicht nur Schüler werden seitdem allerdings getestet.

In Deutschland lautet die Botschaft an die nachwachsende Generation: Wirbrauchen euch nicht

Wenn die Schulen frei sind, das ist klar, setzt die Gesellschaft Leistungsstandards fest, zumeist als Mindeststandards. In Finnland, Schweden und Norwegen passen die Lehrpläne für das ganze Schulsystem in dünne Broschüren. Bis vor einiger Zeit machte man sich hierzulande darüber lustig – die Anspruchslosigkeit der Nordlichter war bewiesen. Denn in deutschen Klassenzimmern sollen Respekt heischend dicke Lehrpläne die Unterrichtsinhalte vorschreiben. Bloß werden diese detaillierten Lehrpläne von den Lehrern kaum gelesen. So machen sie vor allem ein schlechtes Gewissen. Die verständlich formulierten und knapp gefassten Texte, in denen erfolgreiche Länder ihre Erwartungen an den Unterricht formulieren, werden sogar von Eltern gelesen. Das deutsche Drama ist: „Wir hängen in Deutschland die Latte so hoch“, sagt der deutsche Pisa-Chef Jürgen Baumert, „dass es näher liegt, drunter durchzulaufen, als drüberzuspringen.“ Für Mindestanforderungen haben wir also keinen Sinn. Da kommt nämlich schon wieder das geballte Misstrauen auf, dass die Schüler eigentlich ja gar nicht lernen wollten.

Deutschland fällt das nötige Umschwenken sehr schwer. Man mag von überkommenen Gewohnheiten nicht lassen und etwa die Inputkontrolle nicht aufgeben. Die Ökonomie des Misstrauens war in der Tat das Erfolgsmodell der alten Industriegesellschaft. Hier war Deutschland Weltmeister.

Die OECD-Studie verdeutlicht wieder einmal, dass die Art, wie eine Gesellschaft ihre Bildung organisiert, aufzeigt, wie sie tickt. Auch bei uns verlangen seit der Pisa-Studie alle Politiker Standards für die Bildung. Viele blicken dabei durchaus auf die erfolgreichen Länder. Aber es sieht so aus, als würde auf die staatliche Inputkontrolle durch Erlasse, dicke Lehrpläne und die allgegenwärtige Bürokratie die neue Outputkontrolle in Form von Tests und zentralen Prüfungen draufgesattelt. Ein Kompromiss, der den Aufbruch kaputtmacht. Wenn es dazu kommt, wird den Schulen endgültig die Luft genommen, und dann heißt es: Schule kaputt. REINHARD KAHL

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