: Bares statt HIV-Medizin
Prozessauftakt gegen Neustädter Apotheker: Der soll 360.000 Euro bei Krankenkassen falsch abgerechnet haben. Ein Sozialarbeiter: „Hätte es das nicht gegeben, könnten Menschen noch leben“
360.000 Euro soll der Apotheker Heinz Jürgen F. per Falschabrechnung von Krankenkassen ergaunert haben. Der Betrug liegt fast vier Jahre zurück: Die Neustädter Hohentorsapotheke, die F. damals betrieb, war eine der vier, die im Januar 2000 im Rahmen des Apothekenskandals in die Schlagzeilen geriet. Seit gestern verhandelt das Bremer Amtsgericht gegen den 55-Jährigen. Die Staatsanwaltschaft nennt ihren Vorwurf „gewerbsmäßigen Betrug in 24 Fällen“. Seit 1998 soll der Angeklagte zwei Jahre lang monatlich zwischen 2.000 und 48.000 Euro bei den Kassen zu viel abgerechnet haben.
Laut Drogenberater Jürgen G., der als erster Zeuge geladen war, soll der Betrug so funktioniert haben: HIV positive oder an AIDS erkrankte PatientInnen kamen mit ihren Rezepten für die sehr teuren HIV-Medikamente zu F. in die Apotheke. Der Angeklagte bat sie in ein Hinterzimmer und händigte gegen das Rezept keine Medizin, sondern Bargeld aus, bis zu einem Drittel des Rezeptwertes. Das konnten bei Medikamentenpreisen von bis zu 1.300 Euro auch mal 400 Euro werden. Gegenüber den Krankenkassen soll Heinz Jürgen F. aber die tatsächlichen, deutlich höheren Kosten für die Medikamente abgerechnet haben.
Die PatientInnen, die lieber Geld statt Medizin für ihre Rezepte nahmen, waren Drogenabhängige. „Eine solche Geldquelle zu erschließen, ist für Süchtige, die meist wenig Geld haben, eine große Versuchung“, erklärte der Zeuge Jürgen G. „Einige PatientInnen haben das exzessiv betrieben: Die haben fünf Rezepte im Monat eingelöst.“ Die Kritik des Drogenberaters richtete sich auch gegen die Ärzteschaft, die – scheinbar bedenkenlos – so viele Rezepte ausgestellt hat. Einige seiner KlientInnen hätten einige Rezepte in Bares verwandelt und andere „richtig“, also für Medikamente eingelöst.
Der in der Drogenambulanz tätige G. erklärte vor Gericht, einigen seiner KlientInnen sei ihr Gesundheitszustand angesichts solcher Summen nicht so wichtig. Schließlich könnten sie von dem Geld weiteres Rauschgift kaufen. G. kennt seine Klienten zum Teil schon seit 20 Jahren.
Pikant an dessen Aussage: Er selbst kennt die geschilderten Geschäfte ausschließlich vom Hörensagen von seinen KlientInnen, deren Namen er nicht nennen kann. Schließlich gehört zu seiner Arbeit als Drogenberater die Verschwiegenheit. Und ein Zeuge, der damals, bei Aufdeckung des Skandals, ein anonymisiertes Fernsehinterview gab, ist mittlerweile verstorben. Damit ist die Zuverlässigkeit der Aussagen kaum zu überprüfen.
Jürgen G. ist heute noch sauer auf die ApothekerInnen, die damals Geschäfte mit Drogenabhängigen gemacht haben. Er ist überzeugt: „Wenn es dieses Angebot am Sielwall, am Dobben, in der Zentaurenapotheke und in der Neustadt nicht gegeben hätte, könnten heute vielleicht noch einige der Verstorbenen am Leben sein.“ Schließlich hätten sie dann ihre Medikamente, statt Geld für Drogen bekommen. ube
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen