piwik no script img

„Es gibt großen Aufklärungsbedarf“

Rebecca Schwoch erforscht personelle Kontinuitäten aus der NS-Zeit in den ärztlichen Standesorganisationen. In der Kassenärztlichen Vereinigung habe es diese bis in die 80er-Jahre gegeben. Deshalb beginnt die Aufarbeitung erst jetzt

taz: Wie gut ist die Situation der jüdischen Ärzte und der ärztlichen Standesorganisationen in Berlin während des Nationalsozialismus erforscht?

Rebecca Schwoch: Generell gibt es dazu schon einiges an Forschungsliteratur, darunter auch meine eigene Dissertation zur ärztlichen Standespolitik im Nationalsozialismus. Aber das sind Forschungen über das ganze Deutsche Reich. Was fehlt, ist die Erforschung der speziellen Berliner Situation. Wie viel jüdische Kassenärzte gab es? Wie sah die Ausschaltungspraxis der hiesigen Kassenärztlichen Vereinigung aus? Daraus kann man dann auch ableiten, wie in Berlin tatsächlich die kassenärztliche Versorgung ausgesehen hat. Nach Schätzungen gab es hier 3.600 Kassenärzte, darunter waren 2.000 jüdische Kassenärzte. Wenn die überwiegende Mehrheit von denen ausgeschaltet wurde, kann man sich vorstellen, dass die Versorgung desolat war.

Die Berliner Ärztekammer hat in den 80er-Jahren mit der Aufarbeitung ihrer Verantwortung begonnen. Warum ist die KV so extrem spät dran?

Die Bundesärztekammer hat 1983 ein Projekt initiiert über die eigene NS-Vergangenheit, auch in der Berliner Kammer hat damals die Aufarbeitung begonnen. Damals saßen in der Führung der Berliner Ärztekammer Personen, die etwas fortschrittlicher waren und es für notwendig erachtet haben, sich der Verantwortung zu stellen …

Das war unter anderem der ehemalige Kammerpräsident Ellis Huber.

Ja. In der KV saßen dagegen noch eine Menge Leute, die dem Nationalsozialismus selbst noch nahe standen. Und deswegen nicht die Notwendigkeit sahen oder nicht den Mut hatten, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit zu konfrontieren.

Gilt das bis in die 80er-Jahre?

Ja, das muss man ganz klar so sehen. Wie die Kontinuitäten genau aussahen, will ich jetzt erforschen. Generell aber gilt, dass es Kontinuitäten vom Nationalsozialismus in die Bundesrepublik und auch in die DDR in allen Institutionen der Ärzteschaft gab. Das gilt nicht nur für die KVen, sondern auch für die Ärztekammern. Schließlich waren mindestens 45 Prozent der Ärzteschaft Mitglieder der NSDAP. Nach dem Ende des Krieges war alles zerstört, es herrschte Ärztemangel – deshalb hat man viele in das neue System integriert. Andererseits muss man auch sehen, dass die Berliner KV zwar spät dran ist, aber die erste KV überhaupt in der Nachkriegsgeschichte, die diesen Schritt tut. Und ich glaube, das wird für sie nicht einfach.

Was befürchten Sie?

Ich kann mir vorstellen, dass die Berliner KV mit Widerstand aus den eigenen Reihen rechnen muss. Das hat sich bereits bei meiner Vortragsveranstaltung gezeigt.

Was ist passiert? Sie haben einen Vortrag über die Berliner Ärzteschaft und die KV im Nationalsozialismus gehalten.

Das war ganz schlimm. Nach dem Vortrag hat sich sofort ein Arzt gemeldet, der mich als Historikerin massiv kritisiert hat. Meine Darstellung sei viel zu einseitig, man müsse für die Ärzte, die in der NSDAP waren, auch Verständnis haben. Das kulminierte in seiner Äußerung, meine Präsentation sei postmortale Klugscheißerei. Leider hat ihn niemand unterbrochen. Das lag sicher daran, dass zunächst alle geschockt waren.

Hatte er Unterstützung?

Nein, die Mehrheit im Saal war klar auf meiner Seite, auch wenn es noch eine andere Äußerung dieser Art gab. Außerdem gab es richtig böse Leserbriefe …

an die Zeitschrift der Berliner Ärztekammer, die einen Artikel über das Projekt veröffentlicht hat.

Darin haben sich Ärzte beschwert, dass man nicht immer in die Vergangenheit schauen sollte, dass es doch genug gegenwärtige Probleme gibt. Und eben auch, dass man die damalige Situation der Ärzte verstehen müsse. Es gibt also wirklich noch großen Aufklärungsbedarf.

INTERVIEW: SABINE AM ORDE

Rebecca Schwoch ist promovierte Historikerin am Institut für Geschichte der Medizin an der FU. Sie soll das von der KV initiierte Forschungsprojekt durchführen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen