: Behinderte sparen später
Kompromiss bei Behindertenhilfe: Gekürzt wird erst ab Mitte 2003, bis dahin soll gemeinsam mit Verbänden ein neuer Vertrag erarbeitet werden. Einsparsumme von 73 Millionen bleibt umstritten
von SABINE AM ORDE
Im Streit zwischen den Wohlfahrtsverbänden und der Sozialverwaltung um die Kürzungen unter anderem in der Behinderten- und Obdachlosenhilfe gibt es einen Kompromiss. Die Einsparungen, die nach Planungen des rot-roten Senats bis Ende 2004 73 Millionen Euro umfassen sollen, werden statt im Januar erst im Juli des kommenden Jahres beginnen. Bis dahin gilt der alte Vertrag weiter; der neue wird unterdessen gemeinsam mit den Wohlfahrstverbänden ausgehandelt. Das habe in der vergangenen Woche die „Kommission 93“ beschlossen, sagte gestern Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (PDS) der taz. In der Kommission, die ihren Namen von einem Paragrafen im Bundessozialhilfegesetz hat, sind das Land, die Bezirke und die Wohlfahrtsverbände vertreten. „Auch der Finanzsenator hat diesem Kompromiss zugestimmt“, betonte Knake-Werner.
„Jetzt sind wir auf einem guten Weg“, so die Sozialsenatorin, die an der Einsparsumme von 73 Millionen Euro festhalten will. „Das ist ohne Qualitätseinbußen zu erreichen, wenn gemeinsam an einer Umstrukturierung der Hilfelandschaft gearbeitet wird.“ Dass dies nun ansteht, geben auch die Wohlfahrtsverbände zu. Doch für sie sind die 73 Millionen Euro mit dem Kompromiss erst mal vom Tisch. „Er ist ein wesentlicher Schritt zur Korrektur der völlig überzogenen und sachlich nicht zu rechtfertigenden Kürzungen“, sagte gestern die Sprecherin der Wohlfahrtsverbände, Elfi Witten. Die Einsparsumme wird in der Vereinbarung nicht erwähnt, 50 Millionen Euro sind aber bereits im Doppelhaushalt 2002/2003 festgeschrieben.
Grundlage für den neuen Vertrag soll ein detaillierter Stadtstaatenvergleich sein, der Ausstattungsunterschiede zwischen Berlin, Hamburg und Bremen aufzeigt. Die Wohlfahrtsverbände werden an der Ausarbeitung der Kriterien für diesen Vergleich beteiligt. Nach einer ersten Einschätzung aus ihrer Verwaltung hatte Knake-Werner bereits vor sechs Wochen verkündet, dass die Unterbringung von Behinderten in Berlin um ein Drittel teurer als in Hamburg und Bremen sei – und sich damit massive Kritik der Träger eingefangen. „Da wurden Äpfel mit Birnen verglichen“, hieß es aus den Wohlfahrtsverbänden. „Das ist unseriös.“ So sei der Anteil der Behinderten, die nicht in Heimen leben und personalintensiv betreut werden, in Berlin ausgesprochen groß. Zurück zur Heimverwahrung will aber auch Knake-Werner nicht: „Die Enthospitalisierung wird auf keinen Fall zurückgefahren“, sagte die Senatorin. „Das wäre absolut kontraproduktiv.“
Die neuen Verträge, die ab Juli 2003 gelten sollen, sollen mindestens anderthalb Jahre laufen. Bislang hatte das Land nur eine einjährige Laufzeit angeboten. Schon ab 1. Januar aber werden die Wohlfahrtsverbände Tariferhöhungen und andere Preissteigerungen nicht auf die Entgelte aufschlagen. Kommt es zu einem Solidarpakt zwischen Land und Gewerkschaften im öffentlichen Dienst, werden nach der Vereinbarung der Komission 93 die Ergebnisse von den freien Trägern übernommen.
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