„Die Straße gehört allen“

Thema der Auftaktkundgebung war auch der regelmäßige polizeiliche Ausnahmezustand bei Castor-Transporten

aus Gorleben JÜRGEN VOGES

Vor der grauen Betonmauer des Endlagerbergwerks stehen in langer Reihe 120 Traktoren mit den farbigen Transparenten gegen Atom, Castor und Endlagerung. Etwa 4.000 Demonstranten, die sich an diesem Samstag in Gorleben und Gedelitz in zwei Zügen auf den Weg zu den Atomanlagen gemacht haben, lassen sich auch durch den Dauerregen die Stimmung nicht vermiesen. Mal als Sensenmann verkleidet, mal als grün-weißer „Bullizist“ oder in Schutzanzügen verleihen sie mit Trommeln und Trillerpfeifen ihrem Protest gegen den bevorstehenden Castor-Transport aus Frankreich ins Zwischenlager Gorleben lautstark Ausdruck. Die BI Lüchow-Dannenberg spricht am Abend von einem gelungenen Auftakt. Man habe gezeigt, dass „der Widerstand nicht bröckelt“, sagt BI-Sprecher Wolfgang Ehmke.

Ungewohnt war allerdings der Ort der Auftaktkundgebung gegen die bislang größte Lieferung hochradioaktiven Mülls ins Wendland: Nicht am Zwischenlager, in das die Polizei bis Donnerstag gleich 12 Castoren mit Abfällen aus der Wiederaufarbeitung im französischen La Hague geleiten will, sondern am benachbarten Erkundungsberg kamen die AKW-Gegner zusammen.

Hinter dem Ortswechsel stand unausgesprochen auch ein vorsichtiger Strategiewechsel. Mit dem ganzen Dutzend Müll-Behälter, das heute Abend nahe der Wiederaufarbeitungsanlage La Hague auf die Reise geht, sollen der 21. bis 32. Castor mit hochradioaktivem Müll den Weg in die große Zwischenlagerhalle finden. Das Ziel, ihr heimatliches Wendland von hochradioaktivem Müll freizuhalten, können die AKW-Gegner aus dem Landkreis da kaum noch aufrecht erhalten. Noch offen ist dagegen die Zukunft des Gorlebener Salzstocks. Im Endlagerbergwerk ruhen aufgrund des von der Bundesregierung verhängten Moratoriums die Erkundungs- oder besser Ausbauarbeiten. Die Suche nach alternativen Standorten ist zumindest versprochen.

„Jeder Castor, der Gorleben erreicht, zementiert diesen Standort als nukleares Entsorgungszentrum“, kritisierte denn auch BI-Sprecher Ehmke. Aus dem Moratorium auf der Endlagerbaustelle müsse angesichts der schlechten Noten für den Salzstock endlich der Abschied von dem Endlagerprojekt in der Gorlebener „Tropfsteinhöhle“ werden. Natürlich betonte die BI auch, dass das Abstellen von Castoren in einer Halle „kein Entsorgungsbeitrag“ sei. Aber der wendländische Widerstand sieht den Protest gegen die Castor-Lieferungen mehr und mehr als Druckmittel gegen ein weiter drohendes Endlager Gorleben.

Auf der Kundgebung am Bergwerk ging es allerdings auch um „die Endlagerung der Grundrechte“, um den regelmäßigen polizeilichen Ausnahmezustand bei Castor-Transporten, gegen den sich die Wendländer ihr Recht auf Widerstand immer erst erkämpfen müssen. Der Republikanische Anwaltsverein, der die Kundgebung wegen der Verbotspraxis der Behörden vorsichtshalber angemeldet hatte, kritisierte das auf der Castor-Route zwischen Lüneburg und Dannenberg geltende Demonstrationsverbot. Rechtsanwalt Martin Lemke erinnerte daran, dass bei den letzten Transporten in das Zwischenlager insgesamt 2.180 Atomkraftgegner in Polizeigewahrsam genommen und zwischen 10 und 25 Stunden festgehalten wurden. Obwohl das niedersächsische Gefahrenabwehrgesetz eine unverzügliche Überprüfung von Ingewahrsamnahmen durch einen Richter verlange, seien von allen über 2.000 Ingewahrsamnahmen nur sieben tatsächlich von einem Richter bestätigt worden.

Für die BI Lüchow-Dannenberg kündigte deren ehemalige Vorsitzende Birgit Huneke entschlossenen Protest auch auf der Castor-Route an. Man lasse sich nicht kleinkriegen und werde den Widerstand gegen die Castor-Transporte nicht aufgeben. „Die Straße gehört allen“, so Huneke. Die Bürger hätten das Recht, auf der Straße zu sitzen, die Straße zu befahren, auf ihr zu gehen.

Und so fanden auch gestern eine Reihe von Happenings statt. Etwa ein Dutzend Dörfer im Wendland wurden neu gegründet – davon manche 50 mit dem Bandmaß abgemessene Meter von der Castor-Strecke entfernt, denn so weit reicht das Demoverbot. Jeder neue Dorfbewohner wurde auf seine Gesundheit untersucht. Dabei wurden diverse Allergien gegen „Bullengrün“ festgestellt. Wer angesichts des Polizeidrucks unverdrossen an eine funktionierende Demokratie auch im Atomsektor glaubte, bei dem wurde eine „Demokratitis“ diagnostiziert. Doch bei aller Witzigkeit: Alle wissen, dass die Castoren kommen. Und dann wird es wieder ernst.