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Schauspieler beim Castor-Einsatz

Selten gelingt es Atomgegnern rund um Gorleben, in die Zone des Demonstrationsverbots einzudringen. Polizei und Protestler bewegen sich gekonnt in ausgefeilten Rollen. Heute oder morgen werden die Atommüllbehälter per Lkw ins Lager rollen

aus dem Wendland NICK REIMER

Ein dicker roter Strich verläuft parallel zur Hauptstraße. Darunter steht: „50 Meter“. Das ist die Grenze, hinter der das Versammlungsverbot gilt – jeweils 50 Meter rechts und links der Castor-Transportstrecke. Gestern konnte diese Linie getrost zu den sichersten weltweit gezählt werden. Auch in der Kategorie „am meisten umstritten“ liegt sie ganz weit vorn.

An dieser Stelle beim Dorf Groß Gusborn in der östlichen Ecke Niedersachsens war vielleicht 250 Demonstranten der Kampagne „X-tausendmal quer“ trotzdem der Grenzübertritt gelungen. Polizeikette vorn, Polizei hinten – bis zum späten Montagnachmittag saßen sie auf der Straße, auf der heute oder morgen die zwölf Transportbehälter mit Atommüll rollen sollen.

Die meisten haben ein weißes T-Shirt übergestreift, auf dem „Wir sind so frei“ steht und Artikel 20 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zitiert wird: „Jeder Mensch hat das Recht auf Versammlungsfreiheit.“ Sie sitzen bei Temperaturen knapp über null auf ihren Strohsäcken – obwohl sie doch lieber laufen wollen. „Wir haben für jeden Tag eine Demo nach Klein Gusborn angemeldet – auf der Transportstrecke“, sagt Sören Janssen, Sprecher von „X-tausendmal quer“. Am Sonntag war das zum letzten Mal genehmigt worden, seitdem ist Demonstrieren untersagt.

Die Strategie der Protestierer ist ausgefeilt. Immer fünf stehen auf und laufen auf die Polizisten zu. „Ich möchte da jetzt durch“, sagt eine grün behütete Demonstrantin. „Tut mir leid, das geht nicht“, sagt der braun gebrannte, verbeamtete Herr ihr gegenüber. „Warum denn nicht?“ – „Ich habe das Verbot nicht zu verantworten. Ich muss es nur durchsetzen.“ Hauptkommissar Dietrich Hartmann ist der Einsatzleiter. Seit 1978 ist der Niedersachse bei der Polizei und hat schon einige Castor-Einsätze auf dem Buckel. Jetzt greift er zum Mikrofon: „Hier spricht die Polizei. Sie handeln rechtswidrig. Ich fordere Sie auf: Verlassen Sie die Straße.“

Doch auch die Demonstranten haben einen Lautsprecherwagen mitgebracht. In dem sitzt Jochen Stay, so etwas wie die Ikone der Bewegung. Der sagt jetzt: „Hier spricht X-tausendmal quer. Sie verstoßen gegen die von den Vereinten Nationen erlassene Erklärung der Menschenrechte. Wir fordern Sie auf: Verlassen Sie die Straße.“

Durchaus gewieft, bekennt Einsatzleiter Hartmann. Trotzdem steht für ihn fest: Wenn er muss, wird er räumen. Inzwischen hat Nieselregen eingesetzt. Die Demonstranten versuchen sich mit Liedern zur Gitarre warm zu singen. Immer wieder stehen einige auf, gehen auf die Polizeikette zu: „Lassen Sie mich bitte durch.“ Das gibt gute Bilder für die Kameras, die begierig auf Eskalation warten. Einsatzleiter Hartmann lässt sich aufreizend viel Zeit, die zweite Aufforderung zur Straßenräumung auszusprechen. Wieder greift auch Stay zum Mikrofon: „Das Verbot dieser Demonstration ist mit Gewalt begründet. Sehen Sie hier welche? Wir fordern die Polizei auf: Lassen Sie uns passieren.“

Jetzt hat Einsatzleiter Hartmann die dritte Aufforderung und den Platzverweis ausgesprochen. Die Polizisten greifen zu ihren Helmen, formieren sich, ein großer Scheinwerferwagen wird aufgefahren. Fast alle Demonstranten stehen jetzt auf, fassen sich bei den Händen und beginnen zu singen und zu tanzen. Da lässt Hauptkommissar Hartmann die Räumungsvorbereitungen stoppen. „Das ist jetzt keine Versammlung mehr, die aufgelöst werden muss“, argumentiert er. Durchaus vernüftig: Die Busse stünden jetzt bereit, plärrt es aus dem Lautsprecher der Atomgegner. Und: Es gibt dort warmen Tee.

„Beide Seiten haben ihre Rolle gut gespielt“, sagt Sören Janssen. Einsatzleiter Hartmann widerspricht: „Wir zusammen haben unsere Rolle gut gespielt.“ Die Kameras haben ihre Bilder, die Zeitungen ihre Argumente, der Konflikt ist sauber aufgezeigt. An diesem Nachmittag ist das Wort „Castor“ nicht ein einziges Mal gefallen.

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