: Die Kinderliebe des El-R.
Mit seinen Kindern war Mohamed El-R. (34) im April auf einer Pro-Palästina-Demonstration. Sie trugen Bombenattrappen am Leib. Heute wird dem Palästinenser in Berlin der Prozess gemacht
von PHILIPP GESSLER
Es geht um Grenzen: Grenzen des Verstehens. Da spricht jemand eine andere Sprache, die man nicht versteht – inwieweit versteht der Übersetzer, was der Sprecher meint? Und übersetzt er richtig, glättet er nicht? Da redet jemand aus einem anderen Kulturkreis – können wir verstehen, was er sagen will? Da erklärt jemand etwas, was er vielleicht selbst nicht versteht, bei dem er an die Grenzen seines Verstandes gerät. Ist Gedankenlosigkeit, ja Dummheit strafbar? Wo beginnt das Böse? Und wann wird aus Verstehen Entschuldigen?
Mohamed El-R. ist ein stämmiger Mann mit schwarzen Haaren, dunklem Teint und einem kleinen Schnauzer. Der 34-jährige Palästinenser schaut mit einem schüchternen Lächeln beiseite, wenn man ihm die Hand drückt. Er hat einen recht weichen Händedruck und lächelt ziemlich oft. El-R. steht heute im Amtsgericht Tiergarten vor Gericht, weil er im April mit seinen drei Kindern auf der Demonstration „Solidarität mit Palästina“ auf dem Alexanderplatz war: Die Kinder, damals 6, 10 und 12 Jahre alt, trugen an ihren kleinen Körpern Sprengstoffattrappen aus Pappe. Die Bilder von El-R. mit seinen beiden Söhnen und seiner Tochter gingen um die Welt. Empörung war überall zu hören.
Die Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen El-R. erhoben: „Wegen Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten“. Durch das Ausstaffieren seiner Kinder mit diesen Pseudobomben hat El-R. nach Ansicht der Anklage „seine Billigung von so genannten Selbstmordanschlägen im Nahen Osten zum Ausdruck gebracht“.
El-R. sitzt, mit schwarzer Lederjacke gekleidet, im Wohnzimmer von Sahid Dudin. Er übersetzt. Dudin war lange verantwortlicher Redakteur der palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa, Korrespondent im Irak und arbeitet jetzt in der „one world media“-Agentur. Er liefert für vier arabische Fernsehanstalten Hintergrundberichte aus Deutschland, hat einen Lehrauftrag für Internationalen Beziehungen an der Freien Universität und spricht davon, dass durch die „Neue Weltordnung“ eine „weltweite Apartheid“ geschaffen werde. Dudin hat den Kontakt zu El-R. vermittelt. Dessen Kinder, sagt Dudin, seien wegen der öffentlichen Empörung über die Sprengstoffattrappen und der Anklage gegen ihren Vater „völlig verstört“.
El-R. macht keinen stark verunsicherten Eindruck. Er wurde 1969 im palästinensischen Flüchtlingslager „El-Bass“ im Libanon geboren, lernte Dreher und Schweißer. Nach seiner Heirat 1989 verschuldete er sich, um seine Frau mit den drei Kindern 1996 nach Deutschland bringen zu lassen – raus aus dem Kriegsgebiet, wie er sagt. Viele seiner Verwandten seien Opfer des Nahostkonflikts geworden, berichtet El-R. Er habe vier Jahre lang die Schulden abarbeiten müssen. Erst dann sei er über Syrien, die Türkei und, versteckt in einem Lastwagen, schließlich nach Deutschland gekommen. Hier hat er den Aufenthaltsstatus einer „Duldung“. El-R. darf nicht arbeiten. Er lebt getrennt von seiner Frau in einem Wohnheim am Tempelhofer Weg.
Kurz vor der „Solidarität mit Palästina“-Demonstration im April habe er mit seinen Kindern Aufnahmen einer ähnlichen Kundgebung in Schweden gesehen, erzählt El-R. Die Kinder seien fasziniert gewesen von einem Kind, das dort eine Bombenattrappe getragen habe. Anstatt Plakate zu malen, hätten sie auch so etwas für die Demonstration machen wollen. Deshalb habe er mit ihnen die Bombenattrappen gebastelt – wessen Idee dies war, bleibt im Interview unklar. Die Kinder hätten Teer für die Attrappen benutzen wollen, er habe ihnen zu Wolle als Füllmaterial geraten. Die Kinder hätten ihre Solidarität mit den Kindern in Palästina ausdrücken wollen. Es sei ein „Aufschrei der Verzweiflung“ über das Leid in Palästina gewesen, sagt El-R. nach der Übersetzung Dudins, ein „verzweifelter Hilferuf“ an die ganze Welt, sein Volk zu retten.
Er habe seinen Kindern nie schaden wollen, betont El-R. Im Nachhinein müsse er eingestehen, nicht genug darüber nachgedacht zu haben. Er wäre nie bereit, seine Kinder zu opfern – allein den Gedanken finde er unerträglich. Schließlich habe er ja Jahre lang geschuftet, um sie nach Deutschland in Sicherheit zu bringen: „Zu keinem Preis würde ich den Nagel vom Fuß meines Kindes hergeben“, sagt El-R., wie Dudin übersetzt. Er verfluche den Tag, da die Idee mit dem Bombenattrappen in ihre Köpfe geraten sei. Er habe gelernt, dass die Menschen in Palästina und hier anders dächten und fühlten, wenn sie so etwas sähen. Hat er Mitleid mit israelischen Kindern, die durch Selbstmordattentate von Palästinensern umgebracht werden? Es gebe für ihn keine palästinensischen oder israelischen Kinder, sagt El-R. – es gebe nur Kinder. Und: „Alle Kinder sind meine Kinder.“
Die Polizisten, die damals die Demonstrationsteilnehmer von der Kundgebung am Alexanderplatz kontrollierten, sagt El-R., hätten seine Kinder und ihn ohne Beanstandung durchgelassen. Ein Polizist habe die Attrappen bloß mit einem Lächeln quittiert. Außerdem habe man ihn nach der Demonstration nicht mühsam ausfindig gemacht – er habe sich selbst bei der Polizei gemeldet. Ein Polizeisprecher erklärte gestern auf Anfrage der taz, er höre zum ersten Mal von solchen Kontrollen. Er könne es sich nicht vorstellen, dass ein Polizist über die Attrappen lediglich gelächelt habe.
El-R. erlaubt dem Fotografen noch, Bilder von ihm im Zimmer seines Wohnheimes zu machen. Es liegt am Tempelhofer Weg, an der Kreuzung von zwei sechsspurigen Straßen. Im Wohnheim riecht es nach Urin, im Erdgeschoss, sagt El-R. in seinem spärlichen Deutsch, wohnten „Penner und Fixer“. Im Zimmer El-R.s stehen bessere Sperrmüllmöbel, durch das offene Fenster lärmt der Verkehr. An die Wände hat sein früherer Zimmergenosse kunstvoll dutzende arabische Schriftzüge gemalt. „Warum ist es ein Problem, ein Palästinenser zu sein?“, übersetzt El-R. mühsam einen Satz.
Die palästinensischen Nationalfarben sind mehrmals zu sehen, mal auf einem Papierfähnchen, mal als kleines Wandbild in Pistolenform. Ein Poster zeigt eine Moschee in Mekka. Aus Stickern einer Radiostation hat El-R. den Spruch „Allah Akhbar“ ans Fenster geheftet. Ein Propagandabildchen zeigt einen Mann, vermummt mit einem Palästinenserschal. Er wirft einen Stein, sein Herz gleicht der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem. Zwei kleine Hunde- und Katzenposter hängen an der Tür. Daneben, ebenfalls als Poster, eine Löwenmutter mit ihrem Wurf. „Palästina für immer“ hat El-R. darauf geschrieben.
Wie vor dem Eintreten in sein Zimmer rückt El-R. auch beim Hinausgehen die Fußmatte vor seiner Tür mit einem Fuß zurecht. Er bringt uns zur Tür des Wohnheims, die ein Hausmeister hinter einem Schalter kontrolliert. El-R. gibt die Hand, schaut zur Seite und lächelt. Hat dieser Mann seine Kinder dazu missbraucht, Selbstmordattentate zu propagieren? Wo sind die Grenzen des Verstehens?
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