„Die Freiheit des Scheiterns“

Auf dem Weg zum Shakespeare-TV: Für Michael Rosenblum steckt der Fernsehjournalismus noch im Mittelalter. Mit der taz sprach er über den Buchdruck, fehlende Demokratie im Fernsehen und die nahende Revolution durch VJs mit Digitalkamera

Interview ANDREAS BAUER

taz: Herr Rosenblum. Sie propagieren den freien Videojournalisten, den autonomen VJ, der Geschichten selbstständig im Fernsehen realisiert. Welche Auswirkungen hätte das auf die Fernsehsender, etwa auf ARD und ZDF?

Michael Rosenblum: Wenn sie bereit sind sich zu ändern, werden sie überleben. Die Tatsache, dass heute ein Unternehmen groß ist, heißt nicht, dass es das auch in Zukunft sein wird. Ich gebe Ihnen einen Analogie: Dort wo ich herkomme, in New England, lebten die Menschen im 19. Jahrhundert vom Eis. Sie schnitten Eisblöcke und verkauften sie bis nach Indien. Eis war schon im römischen Reich ein Big Business. Da wurden riesige Eisblöcke vom Apennin heruntergeschafft. 2.000 Jahre waren die Menschen im Eisgeschäft. Bis Jakob Perkins in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts den Kühlschrank erfand. In dem Augenblick war jeder im Eisgeschäft tot. Wenn die Leute von ARD und ZDF glauben, sie müssten große Teams in die Welt schicken, um Geschichten zu erzählen, werden sie sterben. Nur wenn sie auf die neue Technologie zugehen, werden sie überleben.

Sie glauben, dass Digitalkameras und VJs eine Art Revolution im Fernsehen auslösen?

Vor 500 Jahren saßen Mönche in den Klöstern und kopierten per Hand die Bibel. Sie gaben vor, was gelesen wurde. Bis Gutenberg kam. Die Druckerpresse machte es möglich, dass neue Ideen veröffentlicht werden konnten. Das hat die Welt auf den Kopf gestellt. Es zerstörte Monarchien und beschnitt die Macht der Kirche. Es führte zur Aufklärung, zu einer intellektuellen Revolution, die Europa erhellte – einfach weil die Menschen, durch das bestimmende Medium ihrer Zeit, die Schrift, an den intellektuellen Konzepten und Ideen ihrer Zeit Teil haben konnten. Das grundlegende Medium unserer Zeit ist das Fernsehen. Aber Sie werden mir Recht geben, wenn ich sage, dass das Fernsehen heute mitnichten das intellektuelle Vehikel für die intellektuellen Konzepte und Ideen unserer Zeit ist. Das Fernsehen steckt doch noch in einem dunklen Zeitalter, steckt noch im Mittelalter seiner Entwicklung. Es wird kontrolliert von wenigen Leuten, die entscheiden, was wir sehen. Fernsehen, so wie wir es kennen, ist von Grunde auf nicht demokratisch.

Digi-Cams werden also das Fernsehen demokratisieren?

Es geht darum, die Barrieren niedriger zu machen. Wenn eine herkömmliche Fernsehkamera 80.000 Euro kostet, dann können sich das eben nur Millionäre leisten. Wenn aber eine Fernsehkamera nur 2.000 Euro kostet, können sich das viel mehr Leute leisten. Und ich glaube, das wird die Qualität des Fernsehens verbessern.

Wie sieht sie denn nun konkret aus, die Zukunft der Fernsehsender?

Wenn Sie in die Redaktion einer großen Zeitung gehen, dann gibt es dort vielleicht 200 Leute, die an ihren Computern sitzen und Geschichten schreiben. Wenn man in den Newsroom von ARD und ZDF geht, dann sind da vielleicht auch 200 Leute. Aber es gibt nur sieben oder acht Kameras und Schnittplätze. Das ist genauso, als habe eine Zeitung mit 200 Reportern nur sieben oder acht Bleistifte. Wenn Sie aber andauernd die Bleistifte mit ihrem Kollegen teilen müssten, dann hätten Sie wohl eine ziemlich miese Zeitung. Die BBC hat sich dazu durchgerungen, die neue Technologie anzuwenden. Bald werden wir einen Newsroom haben, in dem jeder Reporter eine Kamera und einen Schnittplatz hat. Wir werden in den kommenden Jahren jedem Reporter elektronische Bleistifte in die Hand geben. Das wird das Fernsehen revolutionieren.

Der Fernsehjournalist wird also auch ein guter Kameramann sein müssen?

Als Zeitungsjournalist können Sie nicht sagen, ich habe zwar gute Ideen, aber ich bin nicht so gut in Grammatik und Rechtschreibung – ich brauche jemanden, der mir die Sachen schreibt. Als Fernsehjouranlist werden Sie in Zukunft Bilder machen müssen. Ein Journalist, der nicht gut mit Bildern und Ton umgehen kann, sollte in Zukunft nicht beim Fernsehen arbeiten.

Werden die Beiträge dadurch noch kürzer, die Schnitte noch schneller?

Im Gegenteil. Die Beiträge werden eher länger. Denn die Reporter werden mehr Zeit für ihre Geschichten haben. Wenn Sie das Filmteam nur für wenige Stunden haben, können sie eigentlich nicht allzu viel aufnehmen. Aber das Wichtigste: Die Technologie erlaubt es den Reportern, zu scheitern. Und darum geht es. Um die Freiheit des Scheiterns. Wenn Sie nur sechs Kameras haben, muss jede Geschichte sitzen. Das engt ein, deshalb wird nichts gewagt. Deshalb sehen wir überall den gleichen Mist: Pressekonferenzen, Geschichten, die es am Morgen schon in den Zeitungen gab, Zeug eben, wo man nichts falsch machen kann. Aber wenn wir 200 Kameras haben, dann können ruhig 150 Geschichten in die Hose gehen. Mit der neuen Technologie können wir etwas riskieren, wir können experimentieren. Wenn Sie ein Künstler oder Schriftsteller sind und morgens aufwachen und eine Eingebung haben, dann können sie nicht warten, bis ihnen irgendjemand Farbe oder Bleistift reicht. Dann müssen Sie sofort loslegen. Im heutigen Fernsehen wird nichts riskiert.

Der Journalist als Künstler?

In jedem Medium sei es nun Print, Fotografie, Musik, Tanz oder Kunst haben wir verschiedene Vorstellungen von Größe. Wir verehren Mozart, oder Rauschenberg oder Frank Lloyd Wright. Das, was sie erschaffen haben, ist das Produkt einer ganz persönlichen Leidenschaft auf dem Gebiet einer bestimmten Technologie. Fernsehen kennt keine Beispiele dieser Einzigartigkeit. Weil es durch die Kooperation von Menschen entsteht. Deshalb ist es so mittelmäßig. Fernsehen ist das letzte Überbleibsel der Sowjetunion. Wenn wir der Technologie freien Lauf lassen und es in die Hände von Leuten geben, die eine Vision haben, dann glaube ich, werden wir das Niveau von Shakespeare und Thomas Mann erreichen. Aber nur wenn wir ein Fernsehen haben, das auf Autorenschaft basiert.