: Die wahrscheinliche Unwahrheit
Vor zwei Jahren hieß es bundesweit: Neonazis ertränkten 5-Jährigen im Freibad. Der Name Sebnitz steht für einen verheerenden Irrtum, für den sich Journalisten bis heute verantworten. Doch es gibt auch Gründe für die kollektive Fehlleistung
aus Sebnitz MICHAEL BARTSCH
Richtig Trubel herrscht in Sebnitz eigentlich nur am Grenzübergang nach Tschechien. Gleich hinter dem Schlagbaum offeriert eine ganze Budenstadt, was das deutsche Gemüt zu undeutschen Preisen begehrt. Sonst aber wirkt die 10.000-Seelen-Stadt in diesen Novembertagen so verträumt wie vor jenem 23. November 2000, als ein Bild-Bericht Sebnitz und halb Europa in Aufruhr versetzte. Die Internet-Präsentation bietet keinen Hinweis auf jenes Kapitel Stadtgeschichte, den angeblichen Kindermord im Jahre 1997 durch Rechtsradikale. Nur ein polemischer Eintrag gegen die „Lügner“ von damals, die Familie des sechsjährig im Schwimmbad ertrunkenen Joseph Kantelberg-Abdullah eingeschlossen, findet sich im Gästebuch der Stadt.
„Die Wunde ist am Vernarben, aber noch nicht völlig verheilt“, resümiert Oberbürgermeister Mike Ruckh (CDU). Die Sebnitzer winken ab. Wie die meisten darüber denken, war schon vor zwei Jahren in aggressiven Reaktionen gegenüber Medienvertretern deutlich geworden. In diesen Tagen erinnerte daran ein Film der Autoren Johann Feindt und Max Thomas Mehr, den Arte und der MDR ausstrahlten: Die „Perfekte Story“ erwies sich damals nach fünf Tagen als absolut einseitig berichtete, verheerende Ente. Die Wut über die irrtümliche Kollektivhaftung einer Stadt bleibt aber ähnlich einseitig gegen die Medien gerichtet. Die Beweise schienen so eindeutig, dass Journalisten fast ausnahmslos Konjunktiv und Fragezeichen vergaßen und die Geschichte als Tatsache übernahmen. Auch die taz steckte eine Rüge des Presserates ein. Doch auch skeptischere Medien und Politiker bis hinauf zu Bundeskanzler Schröder hielten ein solches Verbrechen nicht für ganz unwahrscheinlich. Der Schritt von gezielten Nazi-Morden an Jugendlichen und Familien zum Kindermord ist so weit nicht.
Im Elbsandsteingebirge erzielen rechte Parteien weiterhin überdurchschnittliche Wahlergebnisse. Ein halbes Jahr nach der Affäre hatte Oberbürgermeister Ruckh nur einen Gegenkandidaten – den der NPD. Mitglieder der inzwischen verbotenen „Skinheads Sächsische Schweiz“ müssen sich derzeit vor Gericht verantworten. Die damals vor dem Haus der Apothekerfamilie unter Morddrohungen aufziehenden Glatzen schienen die Story nur zu bestätigen. Vor allem aber konnte die Verhaftung dreier Jugendlicher durch die Dresdner Staatsanwaltschaft nur auf einem dringenden Tatverdacht beruhen. Hier fehlt bislang jede Selbstkritik der Ermittlungsbehörden.
Inzwischen steht das aufwändig restaurierte Fachwerkhaus verwaist, die Kantelberg-Abdullahs sind unbekannt verzogen. Bild versuchte, sich und die Stadt mit 25.000 Euro und kostenlosen Image-Anzeigen zu rehabilitieren. Arbeitslosigkeit und Abwanderung hat das nicht stoppen können. Im kommenden Jahr wird Sebnitz immerhin den „Tag der Sachsen“, das größte ostdeutsche Volksfest ausrichten. Und der idyllische Ortsteil Hinterhermsdorf wurde im Vorjahr zum „schönsten Dorf Deutschlands“ gewählt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen