: Misshandlung ausgeblendet
Das Gesundheitssystem verschlimmert Gewalterfahrungen von Frauen, weil MedizinerInnen und PsychologInnen nicht angemessen mit dem Thema umgehen. SenatorInnen drängen auf Besserung
von SABINE AM ORDE
Maria Jensen (Name geändert) wurde vor drei Jahren auf einem Parkplatz vor einem Krankenhaus vergewaltigt und so heftig geschlagen, dass sie fast das Bewusstsein verlor. Erst vor wenigen Monaten kam die 35-Jährige zu Lara, einem Krisen- und Beratungszentrum für vergewaltigte Frauen. Da lag eine zweieinhalbjährige Odyssee durch das Berliner Gesundheitssystem hinter ihr: von einer Klinik, die sie direkt nach der Tat stundenlang auf einem überfüllten Flur warten ließ, über ÄrztInnen, die ihre Symptome zu kurieren suchten, aber sich für die Ursache nicht interessierten, bis hin zu TherapeutInnen, die falsche Diagnosen stellten.
„Das Gesundheitssystem kann mit diesem Thema noch immer nicht umgehen“, kritisiert Lara-Mitarbeiterin Petra Hildebrand, die Jensen heute therapiert. „So werden die gesundheitlichen Folgen von Gewalterfahrungen verschlimmert.“ Deshalb fordern Hildebrand und rund 40 andere Fachfrauen, die sich zum Netzwerk Frauengesundheit zusammengeschlossen haben, das Thema Gewalt gegen Frauen in die Aus- und Fortbildungsrichtlinien für MedizinerInnen festzuschreiben. Das wollen auch Gesundheitssenatorin Heidi Knake-Werner und Frauensenator Harald Wolf (beide PDS). Sie hatten gestern anlässlich des Internationalen Tages gegen Gewalt gegen Frauen zu einer Pressekonferenz bei Lara geladen.
„Diagnostik, Erstversorgung und Therapie müssen verbessert werden“, sagte Knake-Werner. Auf Antrag Berlins haben deshalb die Frauen- und die Gesundheitsministerkonferenz der Länder im Mai die Ärztekammer gebeten, dies bei Fort- und Weiterbildung zu berücksichtigen. Zudem will Knake-Werner das Modellprojekt Signal, in dem seit über drei Jahren ÄrztInnen und Pflegekräfte zunächst im Universitätsklinikum Benjamin Franklin (UKBF) und inzwischen auch im Klinikum Spandau im Umgang mit Misshandlungen geschult werden, auf andere Krankenhäuser ausweiten.
Ein Gespräch mit der Leitung des Klinikkonzerns Vivantes, in dem die städtischen Kliniken zusammengeschlossen sind, habe sie schon geführt. Jetzt prüfe ihre Verwaltung, wie das Vorhaben finanziert werden kann. Außerdem will Knake-Werner in einem Krankenhaus einen stationären Bereich speziell für Frauen einrichten. „Darüber wird derzeit verhandelt“, so die Gesundheitssenatorin.
Den Fachfrauen des Netzwerks geht das natürlich nicht schnell genug. „Aber wir sind froh, dass es endlich eine Sensibilisierung gibt“, sagte die Sprecherin des Netzwerks, Martina Schröder, und betonte, dass beim deutschen Gynäkologen-Kongress das Thema im Jahr 2000 erstmals auf der Tagesordnung stand. „Es gibt bis heute eine große Ausblendung.“
Die breitere Sensibilisierung schlägt sich auch in Zahlen nieder. In Berlin wird immer mehr häusliche Gewalt gegen Frauen registriert. Waren es im Vorjahr noch 4.274 Fälle, so wurden bis Anfang September bereits 7.343 Übergriffe gemeldet, sagte Frauensenator Wolf. Auf mehr Vorfälle sei das vermutlich nicht zurückzuführen. Dennoch sei die Dunkelziffer noch immer sehr hoch.
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