: Mordpläne waren bekannt
Schon im März 1995 hatte Serbenführer Karadžić General Mladić angewiesen, die Muslim-Enklave zu „eliminieren“
von HUUB JASPERS
„Ich hoffe, die Wahrheit über Srebrenica wird nun endlich ans Licht kommen“, sagte vor einigen Tagen einer der ehemaligen Dutchbat-Offiziere, die derzeit vor dem Untersuchungsausschuss des niederländischen Parlaments aussagen. Seit dem 11. November hört dieses Gremium bis einschließlich morgen dutzende von Betroffenen an: Militärs, Beamte, Diplomaten und Politiker. Die zentrale Frage lautet: Warum hat das niederländische UN-Bataillon Dutchbat am 11. Juli 1995 die serbische Eroberung der Muslim-Enklave in Ostbosnien und die anschließende Ermordung tausender Männer nicht verhindern können?
Der Ausschuss konzentriert sich auf Fragen, die in der politischen und moralischen Debatte in den Niederlanden eine große Rolle spielen: Warum schickte die Regierung Dutchbat 1994 nur mit leichten Waffen nach Srebrenica? Hätten die niederländischen Soldaten nicht doch mehr tun können zum Schutz der muslimischen Bevölkerung? War für Den Haag nicht absehbar, dass es keine Nato-Luftunterstützung geben würde? Hat Hollands Armeeführung nach dem Fall der Enklave versucht, Fakten, die dem Ansehen der Truppe hätten schaden können, systematisch unter den Teppich zu kehren?
Die Hoffnung des Dutchbat-Offiziers wird wohl enttäuscht werden – die volle Wahrheit dürfte auch diesmal nicht ans Licht kommen. Und sei es auch nur aus dem Grund, dass der Untersuchungsausschuss ausschließlich niederländische Zeugen unter Eid befragen kann. Internationale Schlüsselfiguren wie Kofi Annan, 1995 UN-Untergeneralsekretär für „Peace Keeping Operations“, der französische General Bernard Janvier oder die damalige US-amerikanische UN-Botschafterin und spätere US-Außenministerin Madelein Albright werden nicht erwartet.
Die Frage, warum der damalige Oberkommandierende der UNO-Truppen in Exjugoslawien, Bernard Janvier, die Bitte des Dutchbat-Kommandanten Thom Karremans um Unterstützung aus der Luft nicht an die Nato weiterleiten wollte, wird der Ausschuss nicht klären können. Dies gilt auch für die andere Kernfrage: Was wussten die westlichen Nachrichtendienste über die Angriffsvorbereitungen der bosnischen Serben, und weshalb haben nachrichtendienstliche Erkenntnisse nicht zu politischen und militärischen Maßnahmen geführt?
Zum letzten Komplex hat das Niederländische Institut für Kriegsdokumentation (Niod) im Rahmen seines umfassenden Untersuchungsberichts „Srebrenica, a ‚safe‘ area“ im April diesen Jahres eine 500-seitige Teilstudie vorgelegt. Der Srebrenica-Bericht war von der niederländischen Regierung in Auftrag gegeben worden und führte im April zu deren Sturz. Trotz jahrelanger Recherchen bleibt die Antwort auf die Frage, ob die westlichen Nachrichtendienste Vorwissen über die Eroberung von Srebrenica hatten, äußerst unbefriedigend. In dem Niod-Bericht selbst finden sich reichlich Hinweise auf Vorwissen (siehe Kasten). Dennoch lautet die Schlussfolgerung des Berichts: „Da nun evident ist, dass es bei keinem der Betroffenen Vorwissen gab, war ein adäquates Reagieren von vornherein ausgeschlossen.“
Mit dieser Generalisierung muss sich das Niod die Frage gefallen lassen, ob es zum Untersuchungsauftrag gehörte, unbedingt zu vermeiden, zum Bericht der UNO in Widerspruch zu geraten, den Kofi Annan 1999 präsentierte. Dort heißt es: „Hätte die UNO nachrichtendienstliche Vorinformationen gehabt, die die Ungeheuerlichkeit der bosnisch-serbischen Ziele offenbart hätten, wäre die Tragödie von Srebrenica möglicherweise zu verhindern gewesen.“
Gespräche abgefangen
Die Niod-Teilstudie zur Rolle der Geheimdienste, die demnächst in englischer Übersetzung erscheinen soll, bekam bisher fast nur Lob. Lob etwa wegen des ausführlich dokumentierten Doppelspiels, das die Amerikaner 1993 und 1994 im Bosnienkrieg spielten: geheime Militärhilfe für die bosnischen Muslime bei gleichzeitigem UN-Waffenembargo. Kritik am geheimdienstlichen Teil des Niod-Berichts gab es erstmals in einem Beitrag, den die niederländische Rundfunkanstalt VPRO am 1. November ausstrahlte – Kritik unter anderem vom deutschen Geheimdienstexperten Erich Schmidt-Eenboom (siehe Interview).
Laut Niod-Interpretation wurden die Hinweise auf die serbischen Eroberungsabsichten damals immer wieder unterschätzt, nicht rechtzeitig übersetzt, nicht weitergeleitet und falsch oder gar nicht analysiert. Vorwissen indes könne es vor dem Juli 1995 nicht gegeben haben, da die bosnischen Serben sich erst am 9. Juli – nachdem die Südflanke der Enklave bereits eingenommen war – entschlossen hätten, die gesamte Enklave zu erobern. „Man kann den Nachrichtendiensten nicht vorwerfen, dass sie nicht wissen, was der Feind will, wenn der Feind dies selbst noch nicht einmal weiß“, erklärte Niod-Autor Cees Wiebes in besagter Radiosendung.
Diese Auslegung des bosnisch-serbischen Einsatzbefehls vom 9. Juli unterschlägt die Tatsache, dass im Einsatzbefehl vom 2. Juli zur Eroberung der Südflanke als Endziel die „Eliminierung“ der gesamten Enklave bereits wörtlich formuliert war. Schon im März 1995 erteilte der bosnisch-serbische Führer Karadžić General Mladić die Direktive zur „Eliminierung“ der Enklave (siehe Kasten).
Im Widerspruch zu den Schlussfolgerungen von Niod-Autor Wiebes stehen die Berichte von taz-Korrespondent Andreas Zumach aus dem Herbst 1995. Zumach berichtete (etwa in der taz vom 12. 10. 1995) über Abhörprotokolle von Gesprächen zwischen Serbengeneral Mladić und der Belgrader Führung über den bevorstehenden Angriff auf Srebrenica. Die Gespräche seien seit dem 17. Juni 1995 von westlichen Nachrichtendiensten abgefangen worden.
Die Niod-Studie versucht Zumachs Erkenntnisse mit Aussagen von – zumeist anonymen – Geheimdienstfunktionären vom Tisch zu wischen. Dabei wird er sogar nachweislich falsch zitiert, um seine Berichterstattung unglaubwürdig erscheinen zu lassen: Niod-Forscher Wiebes unterstellt Zumach, er habe die Abhörprotokolle vom damaligen bosnischen Außenminister Sacirbey bekommen und nicht, wie Zumach selbst berichtet hatte, von US-Geheimdienstfunktionären. Dem Radiosender VPRO gegenüber musste Wiebes eingestehen, keinerlei Beweise für seine Unterstellung zu haben.
Huub Jaspers ist Redakteur bei der niederländischen Rundfunkanstalt VPRO
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