: Die Anspruchsvolle
von ROBIN ALEXANDER
Wenn der Erfolg eines Menschen sich am Tempo seines beruflichen Aufstiegs misst, dann war Esther Schröder ungeheuer erfolgreich. Im Frühjahr 1999 besucht die frisch promovierte junge Mutter auf Jobsuche zum ersten Mal in ihrem Leben die Versammlung einer Partei. Drei Jahre später soll sie einen Spitzenposten in der Hauptstadt besetzten. „Neue Staatssekretärin ist 33“ titeln die Berliner Zeitungen staunend.
Aber Esther Schröder, aufgewachsen in der Provinz der DDR, ist nicht nur die jüngste Staatssekretärin, die es je gab, sondern auch die mit der kürzesten Amtszeit: drei Tage. An einem Dienstag beschließt der Senat von Berlin ihre Ernennung, am Donnerstag zieht er sie spektakulär zurück. „Dies ist eine politische Führungsposition und kein Versorgungsposten“, formulierte ihr Senator schmallippig in eine Fernsehkamera. Sein Apparat informiert die Journalisten en detail: Esther Schröder habe darauf bestanden, sofort verbeamtet zu werden. Eine übliche Probezeit von zwei Jahren habe sie partout nicht akzeptieren wollen. Von der PDS-Basis bis zur Redaktion der Bild-Zeitung ist man sich einig: Raffke! Eine, die schon mit 33 an die Rente denkt. Eine Absahnerin.
Als sie den Mann von der Zeitung trifft, denkt Esther Schröder an dieses Urteil. Er hat es in seinen Artikeln mit gefällt. Die Umgebung ist ein Potsdamer Café, in dem Hausfrauen bei Milchkaffee tratschen und Studenten Schach spielen. Esther Schröder fällt hier auf durch professionelle Erscheinung. Ein dunkelbrauner Hosenanzug. Dezent geschminkte Lider. Gezupfte Augenbrauen. Eine teure, randlose Brille. Eine Frau, der man seine Steuererklärung anvertrauen würde.
Am 20. März 1999 hält Esther Schröder in Potsdam-Hermannswerder auf einem PDS-Wahlparteitag die erste Rede ihres Lebens. Den Genossen gefällt, dass da eine junge, gut ausgebildete Frau ihre Sprache spricht, den brandenburgischen Dialekt. Und sie brauchen, um ihre Quotierung zu erfüllen, jede Frau, die bereit ist, sich zu engagieren. „Obwohl ich niemanden kannte und mich niemand kannte, wurde ich nominiert“, wundert sich Esther Schröder noch heute. Die damals noch Parteilose kommt auf Listenplatz 9. Sicher im Landtag.
Dabei war sie nur zufällig in die PDS gestolpert. Die Arbeitsmarktökonomin mit Einser-Dissertation hangelt sich 1999 von Projektvertrag zu Projektvertrag. Sie schreibt Bewerbungen an Institutionen. Am liebsten wäre sie Ministerialbeamtin geworden. Aber im öffentlichen Dienst herrscht Einstellungsstopp. Irgendwann ruft sie auch bei der Landtagsfraktion der PDS in Potsdam an. Nein, Mitarbeiterstellen seien zurzeit leider keine frei. Aber wenn sie politisch arbeiten wolle, könne sie ja zum Parteitag in ein paar Tagen kommen.
„Meinen Sinn für Gerechtigkeit habe ich von zu Hause– und meinen Ehrgeiz“, betont sie. Die Mutter, die allein zwei Kinder erzieht, arbeitet Vollzeit und kämpft sich an den Abenden durch ein Fernstudium. Eine Frau, die sich nach oben lernt. Esther ist benannt nach einer Lehrerin der Mutter. 1989 ist die Mutter am Ziel: ökonomische Direktorin eines Betriebs der Industriestadt Luckenwalde. Für die ersehnte „Leiterfunktion“ ist sie schließlich sogar in die SED eingetreten.
Wenn Esther Schröder von ihrer Mutter erzählt, liegt der ausgeprägten Zug zum Höheren, der Esther Schröders Wesen dominiert, ganz offen. Obwohl sie klein, blass und wenig kräftig ist, wirkt sie gar nicht zierlich. Beschützerinstinkte bei ihrem Gegenüber auslösen hat sie zu Hause nicht gelernt. Sie schaut Männer nicht mit schief gelegtem Kopf und großen Augen an, sondern blickt ihnen ins Gesicht. Ein Mensch ist das, was er weiß, kann und tut. Und weil Esther Schröder viel weiß, kann und tut, sind ihre Ansprüche enorm.
Die Schülerin Esther Schröder arbeitet im FDJ-Klassenrat mit, hat gute Zensuren und Perspektiven. Sie macht das Abitur auf einer Eliteschule, die mit der Humboldt-Universität in Berlin kooperiert. Im ersten Semester Wirtschaftswissenschaften erwischt sie die Wende. Esther Schröder ist begeistert. Nicht vom Westen. Westberlin wirkt auf sie an vielen Stellen „dreckig, ja regelrecht abstoßend“. Nicht vom Reisen. Sie bleibt erst mal in Berlin. Ihre Begeisterung über die Wende gilt der Potenzierung ihrer Möglichkeiten: „Ich hatte mein ganzes Berufsleben ja noch vor mir.“
Die erste große Chance kommt 1993, als Professor Wolfgang Franz eine Gastprofessur in Berlin annimmt. Franz ist einer der „fünf Weisen“, die für die Bundesregierung die Konjunktur prognostizieren. Kommilitonin Schröder ist voll Bewunderung: „Der Mann, nach dessen Lehrbuch ich studierte.“ Als Franz zurück an seine Uni nach Konstanz am Bodensee geht, liegt bald eine Bewerbung von Esther Schröder auf seinem Tisch. „Unter allen Bewerbern war ich die einzige Frau und die Einzige aus dem Osten“, erzählt sie stolz.
Im Westen als Ostfrau unter Männern: Akzeptiert wird sie wegen ihrer Leistung. Sie ist erfolgreich. Assistenzstelle ohne Lehrverpflichtung. Dissertation in Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt für Arbeit. Vorher war sie schon ein Jahr in den Niederlanden, um dort fortschrittliche Arbeitsmarktpolitik zu studieren. Die Unikarriere in Konstanz am Bodensee, 700 Kilometer vom heimischen Brandenburg und Lichtjahre von Ostdeutschland entfernt, gibt Esther Schröder ein Glücksgefühl, wie man es nur spürt nach einer großen bestandenen Herausforderung. „Konstanz war eine tolle Zeit für mich. Die beste Grundlage für mein weiteres Leben.“ Mit ihrem Doktortitel hat sie alles erreicht, was sie in Konstanz erreichen wollte.
Unter den 22 PDS-Abgeordneten im Potsdamer Landtag geht es ganz anders zu als bei den Wissenschaftlern im Westen. „Dieses Drücken und Umarmen bei der PDS, das war mir von vornherein unangenehm, weil unehrlich. Manche küssen sich sogar.“ In Konstanz gab man sich nicht einmal die Hand. Esther Schröder fällt es schwer, Respekt aufzubringen für ihre Fraktionskollegen, die einander notorisch duzen und in der PDS Freunde suchen statt Erfolge. Die geborene Ostdeutsche fremdelt in der Ostpartei. Anfangs besteht sie auf Nennung ihres Doktortitels in Pressemitteilungen. Rasch heißt sie im Fraktionsjargon nur noch süffisant „die Frau Doktor“. Aber auf ihrer ersten Fraktionssitzung wird sie gleich in den Vorstand gewählt.
Frau Doktor ist fleißig und erfolgreich: hat beste Kontakte zur Presse. Und einen geheimen Informanten im Wirtschaftsministerium mit dessen Hilfe sie den Minister öffentlich bloßstellt. Als ihr zweiter Sohn geboren wird, unterbricht sie ihre Arbeit nur für drei Monate. Rücksicht nimmt sie jetzt auf niemanden mehr. Den Landesvorsitzenden der PDS bezeichnet sie öffentlich als „Pressesprecher des CDU-Wirtschaftsministers“. Frau Doktor bringt Urgestein zum Beben: Lothar Bisky – der als Ex-PDS-Vorsitzender einiges gewohnt ist – schreit sie mit puterrotem Gesicht an: „Ich verbitte mir Denunziationen!“
Hat sie denn nicht geahnt, dass so etwas nicht lange gut gehen kann? Ob ihre Positionen anschlussfähig sind, ist ihr egal: Sie will Recht haben. Die PDS ist in Brandenburg in der Opposition, folgt aber dennoch in weiten Teilen der Linie der Regierung. Sogar den umstrittenen Bau einer Chipfabrik in Frankfurt (Oder) mit arabischen Investoren und Fördermitteln tragen die Sozialisten mit. Außer Esther Schröder. Im Landtag munkelt man: So geht es nicht lange weiter mit Frau Doktor.
Die PDS-Strippenzieher wollen sie loswerden. Aber eine einmal gewählte Abgeordnete kann man kaum maßregeln. Sie packen Esther Schröder an ihrer empfindlichen Stelle: ihrem Ehrgeiz. Der Anruf auf dem Funktelefon ist kurz: „Guten Tag. Harald Wolf, Wirtschaftssenator in Berlin. Ich möchte dich gerne kennen lernen.“ Sie soll Staatssekretärin für Arbeit, Wirtschaft und Frauen werden. Was Wolf, der Esther Schröder nicht kannte, zu diesem Anruf motivierte, ist nicht vollständig recherchierbar. Fakt ist: Wolf fragte zuerst Heinz Vietze, den parlamentarischen Geschäftsführer der PDS. Ebenden Mann, den die renitente Abgeordnete am meisten genervt hatte. Wolf erinnert sich an Vietzes Auskunft: „Fachlich sehr gut, aber menschlich schwierig.“ Vietze hingegegen erinnert sich an seine Auskunft so: „Menschlich sehr schwierig, aber fachlich gut.“
Eine ungewöhnliche Personalie: Zu unerfahren. Zu wenig eingebunden in die PDS. Zu junge Kinder. Genossinnen sagen ihr ihre Bedenken ins Gesicht. Aber Esther Schröder wittert die nächste Karrierestufe. Sie, die zur gemeinnützigen Leiharbeit geforscht hat, wäre mit der Umsetzung der Hartz-Beschlüsse in Berlin betraut gewesen. Ein Erfolg hier würde für noch Höheres qualifizieren: „Das mit dem Staatssekretär habe ich als Möglichkeit gesehen, mein Wissen anzuwenden, und als Schule, wie Exekutive funktioniert.“
Dazu kommt es nicht mehr. Weil Esther Schröder das Kleingedruckte dreimal liest und entdeckt, dass das Land Berlin sie erst auf Probe beschäftigen will. Das ist bei allen Staatssekretären so, argumentiert die Verwaltung. Argumentiert ihr Senator. Esther Schröder meint, ihr Fall liege anders, und fordert eine rechtliche Prüfung. Die Absurdität, dass jemand, der Leiharbeit von Staats wegen organisieren soll, auf seiner eigenen Verbeamtung besteht, nimmt sie bis heute nicht wahr. Frau Doktor beharrt einmal mehr auf ihrem Standpunkt. Aber Berlin ist nicht Brandenburg. Als sie ein Fax an den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) schickt, in dem sie ultimativ die rechtliche Überprüfung ihrer Ernennung fordert, ist ihre Karriere zu Ende.
Was mit Esther Schröder geschehen ist, nennen politische Menschen: verbrennen. Sie wird nicht noch einmal aufsteigen. Keine Chance, ein Phönix zu werden. Die Asche ist schon entsorgt. Die Partei schließt sie aus der Landtagsfraktion aus. Lothar Bisky, der Landesvorsitzende, veröffentlichte sogar ein DIN-A5-Heft zum Fall Schröder. „Somit bleibt eine Schädigung des Ansehens der PDS, in deren Geschichte erstmals ein Mitglied die eigene Versorgungsfrage zeitlich vor das politische Wirken für die wirklich Versorgungsbedürftigen, die sozial Schwachen, gestellt hat.“ Geduzt wird die Verfemte von Bisky noch immer. Noch zwei Jahre wird Esther Schröder im Potsdamer Landtag sitzen – ausgesondert von der PDSlern, denen sie mittlerweile SED- und Stasivergangenheiten vorwirft.
Was bleibt von dieser außergewöhnlichen Karriere? Der CDU-Minister, dem sie die lauteren Absichten seiner arabischen Chipfabrik-Investoren nicht abnahm, trat vor einem Monat zurück. Er wurde eines privaten Millionenkredits des Scheichs von Brunei überführt. Selbst Bisky muss zugeben: „Hier hatte Esther Schröder Recht.“ Ein von ihr gegründetes Netzwerk arbeitsloser Frauen gibt ein paar Aktivistinnen in Brandenburg Perspektive. Der Erfolg eines Menschen misst sich nicht am Tempo seines beruflichen Aufstiegs.
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