Geliebtes Bildarchiv

Das Fernsehen lebt von Wiederholungen – und das finden wir auch ganz wunderbar. Live ist schön, besser sind aber TV-Produkte, die schon Patina angesetzt haben

von KLAUDIA BRUNST

Eine Szene in dem Hollywoodfilm „Zurück in die Zukunft“ illustriert das Thema sehr hübsch: Marty McFly, soeben mit der Zeitmaschine aus seinem Leben von 1985 zurück in das Amerika des Jahres 1955 gerast, sitzt bei seiner Gastfamilie und macht Konversation. Er zeigt auf den im Hintergrund laufenden Fernseher, wo gerade eine Sitcom gezeigt wird: „Das kenn ich“, freut er sich, inmitten dieser ihm fremden Welt auf etwas Bekanntes zu treffen, „das ist eine Wiederholung!“ Darauf sehen sich die Menschen des Jahres 1955 irritiert an. Der kleine Junge spricht aus, was die anderen denken: „Papa“, fragt er, „was ist das: eine Wiederholung?“

Auch das deutsche Fernsehen der Gründerjahre war nur für den Augenblick gemacht. Zunächst fehlten alle Möglichkeiten, das Gezeigte überhaupt aufzuzeichnen. Gesendet wurde zum überwiegenden Teil live. „Unmittelbare“ Sendungen wurden diese Programmbeiträge im Fachjargon genannt. Und was man sich heute kaum noch vorstellen kann: Nicht nur Studiogespräche oder die Abendnachrichten, sondern ganze Fernsehspiele wurden in den Fünfzigerjahren im Studio am Stück aufgeführt und konservierungsfrei übertragen.

Trotzdem hatte das Fernsehen von Anfang an einen hohen Wiederholungsfaktor. Der speiste sich aus zwei Quellen: Weil das junge Medium noch nicht in der Lage war, die Programmstrecken ohne Zukäufe zu füllen, entwickelte sich das „Pantoffelkino“ auch zur Zweitabspielstätte für populäre Kinofilme. Obwohl die Fernsehmacher sich selbst auferlegten, nicht mehr als einen Spielfilm pro Woche zu zeigen, eröffneten diese Einkäufe (meist westdeutsche Produktionen der Nachkriegszeit) dem Fernsehpublikum doch die Möglichkeit, im Fernsehen nachzuholen, was man im Kino verpasst hatte.

Das Fernsehen zitierte sich jedoch auch selbst. Bereits 1953 findet sich in der deutschen Programmgeschichte ein erster Hinweis auf die Wiederholung eines Fernsehspiels. Der Titel der Sendung „Das Sparschwein“ trügt freilich. Fernsehspiele, die bald im Abstand weniger Monate ein zweites oder gar drittes Mal gezeigt wurden, waren nicht wesentlich preiswerter als eine Neuinszenierung – denn es waren in Wahrheit „Wiederaufführungen“. Die komplette Produktion (inklusive aller Darsteller, Deko et cetera) musste jedes Mal im Studio neu hergestellt werden.

Entsprechend hatte das Fernsehen zunächst auch kein Bewusstsein für die eigene Geschichtsschreibung. Erst mit der Erfindung der Magnetaufzeichnung (MAZ) in den Siebzigerjahren begannen die Sendeanstalten, ihr Programm systematisch zu archivieren. Schon deshalb konnte der NDR seine historische Rubrik „Tagesschau vor zwanzig Jahren“ nicht früher starten. Aus den Jahrzehnten zuvor überdauerten lediglich die auf teurem Filmmaterial gedrehten Produktionen – Dokumentationen, Fernsehspiele, Reportagen und ganz gelegentlich Aufzeichnungen von Unterhaltungsshows, die außerhalb der Fernsehstudios veranstaltet worden waren.

Und doch ist mit dem Fernsehen von Beginn an unser Eindruck verbunden, durch all seine Wiederholungen verfüge es so selbstherrlich über die Zeit wie kein anderes Informationsmedium. Und ist es nicht auch so? Mit seinen Liveübertragungen von Weltereignissen hat sich das „Fenster zur Welt“ in unsere Erinnerung eingebrannt wie es weder das Kino noch die Zeitung, höchstens eine historische Weile lang noch das Radio vermocht haben.

Woher haben wir eigentlich die Vorstellung von Neil Armstrong, der den Mond betritt? Wie erinnern wir das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt? Wie den Anschlag auf John F. Kennedy? Mit zunehmender gesellschaftlicher Bedeutung wurde das Fernsehen sogar selbst zum weltpolitischen Akteur: Der Fall der Berliner Mauer ist ohne die Rolle des Westfernsehens kaum erzählbar. Der Anschlag auf das World Trade Center war geradezu auf die weltumspannenden CNN-Kameras hin konzipiert.

Nur: Weil das Fernsehen derart prägende Bilder in allen möglichen Zusammenhängen stetig wiederholt, füllt sich das individuelle Bilderarchiv alsbald auch mit solchen Ereignissen auf, bei denen persönliche Teilhabe noch gar nicht möglich war, weil die Ereignisse vor der eigenen Geburt liegen: So können die Achtzigerjahrgänge dank des Fernsehens zum Beispiel durchaus über eine konkrete Vorstellung von dem Anschlag auf die Olympischen Sommerspiele in München 1972 verfügen.

Wer will, kann am „Wunder von Bern“ teilhaben, die Einführung des Farbfernsehens durch Willy Brandt miterleben. Die Rückschau in bewegten Bildern reicht nicht nur über das eigene Lebensalter hinaus. Mit der Verarbeitung historischer Wochenschauen überschreitet das Fernsehen auch jene Schwelle, an der das Medium vor fünfzig Jahren selbst erst zu existieren begann.

Denn während das Kino, für das die Wochenschauen ursprünglich ja produziert wurden, nie auf die Idee käme (und gekommen wäre), das Nachrichtenmaterial zurückliegender Jahre oder Jahrzehnte außerhalb des abgegrenzten Raumes einer Dokumentation erneut zu zeigen, findet das Fernsehen nicht erst seit Guido Knopp Anlässe zuhauf, die bewegten Bilder aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren in unserer Erinnerung wach zu halten.

Und selbst damit nicht genug! Viel lieber als anhand historischer Großereignisse ordnet sich unser Gedächtnis nach persönlichen Eindrücken. Und auch hier leistet das Fernsehen sehr viel Erinnerungsarbeit, wenn es unverdrossen die Lieblingsserien der verklärten eigenen Jugend sendet und sendet und sendet. Nicht erst mit der Achtzigershow von RTL fand das Kultfernsehen der Sechzigerjahrgänge einen angemessenen Ausdruck. Für die erste Teeniegeneration, die von Kindesbeinen an mit Fury, Lassie und der bezaubernden Jeannie grundversorgt wurde, kommt Kabel 1 einer sentimental journey mit Endlosschleife gleich.

Manche der Sendung scheinen bei der Wiederholung eine Patina zu bekommen, die wie ein Zaubertrank wirkt. Zur Verwunderung des Fernsehautors Wolfgang Menge stieg die Popularität seiner Serie „Ein Herz und eine Seele“ deutlich an, als die ursprünglich umstrittene Sitcom viele Jahre später in den dritten Programmen wiederholt wurde. Offenbar tat es dem Produkt im Sinne der Quotenmaximierung gut, vom Stachel der politischen Aktualität befreit worden zu sein.

Vielleicht etwas zu spät für die Kriegsjahrgänge holte man irgendwann dann sogar das Heimkehrerepos „So weit die Füße tragen“ aus der Mottenkiste, mit einem Heinz Weiss in der Hauptrolle, den die Jüngeren wiederum mit dem ersten Kaptitän der „MS Deutschland“ ihrer frühen „Traumschiff“-Reisen in Verbindung bringen.

Ein solcher Rückgriff auf das noch so junge Gesicht des Hauptdarstellers zeigt uns freilich immer auch unsere eigene Vergänglichkeit. Auch das ist ein Phänomen, dem das Fernsehen ein eigenes, bei Lichte betrachtet ziemlich morbides Ritual geschenkt hat: die Wiederholung zum Todesfall. Als könne damit das Leben noch einmal von vorne beginnen, steigen die Fernsehleute zur Trauerarbeit ins Archiv und lassen den Verblichenen noch am gleichen Abend in aller Schönheit und Vitalität für ein paar glückliche Stunden auferstehen.

Seit wir uns im TV-Zeitalter der Wiederholungen befinden, in dem ein Sender wie Phoenix mit größter Sorglosigkeit mal tagesaktuell live, mal eine längst vergangene Tagung versendet, schwindet gerade für den geübten Fernsehzuschauer peu à peu das Gefühl für die Differenz zwischen heute, gestern und vorgestern. Und noch mehr für die Unterscheidung, was man eigentlich mit eigenen Augen sah – und was durch die Objektive der Fernsehkameras.

Erst recht kompliziert wird es, wenn das Medium seine Definitionsmacht über die Zeit bis ins Fiktionale ausdehnt, wenn es als zeitgenössisches Bildgedächtnis die Historie adaptiert und teilweise rekonstruiert. Wer zum Beispiel die hervorragenden Dokudramen von Heinrich Breloer wie „Das Todesspiel“ oder zuletzt „Die Manns“ gesehen hat, erinnert fortan Andreas Baader oder Thomas Mann mit je zwei Gesichtern: dem authentischen schwarzweißen des historischen Vorbilds (meist nur verschwommen auf Fotopapier) und dem bewegten und mit Stimme versehenen des Schauspielers.

Übrigens: Der Hinweis der Medienfachleute, dass das Fernsehen den Aufprall der Flugzeuge auf die beiden Türme des World Trade Centers nie wirklich live, sondern aus technischen Gründen schon beim ersten Mal um ein paar Minuten zeitversetzt zeigte, ändert nichts an unserem echten Gefühl, dieses epochale Ereignis live nicht verpasst zu haben. So und nicht anders werden wir uns an den 11. September 2001 erinnern: als Fernsehzuschaueraugenzeugen.

KLAUDIA BRUNST, 38, ist freie Fernsehkritikerin in Berlin. Sie sah den Mann im Mond im Fernsehen. Als Wiederholung