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Arbeit schützt vor Gefängnis – nicht

Knastler sind in Schule oder Ausbildung gescheitert – so das Vorurteil. Der Bremer Kriminologe Karl F. Schumann vertritt dagegen eine fast revolutionäre These: In seiner Studie zeigten sich kaum Auswirkungen von „Erfolg“ auf spätere Delinquenz. Das hat auch Konsequenzen für die Strafverfolgung

Bremer Richter und Staatsanwälte: Wer gut arbeitet, verdient MildeGedankengefängnis „Arbeit schützt vor Kriminalität“ aufgeben

Von Karl F. Schumann

Die Annahme, dass Arbeit vor Rückfällen in eine kriminelle Laufbahn schütze, ist durch nichts belegt, sagt der Bremer Kriminologe Karl F. Schumann. Seine Studie zeigt: Arbeit hat keine positive Wirkung auf Resozialisierung. Wir dokumentieren in Auszügen einen Vortrag, den Schumann bei der Festveranstaltung zum 25-jährigen Bestehen der Bremer Zentralstelle für Straffälligenhilfe hielt.

Vor 15 Jahren entwickelte ich das Konzept einer Langzeitstudie mit Abgängern von Haupt- und Sonderschulen, um die Zusammenhänge zwischen Berufsausbildung, beruflichem Erfolg und Kriminalität zu verstehen. Sie sollte klären, ob und wie Personen, die mit dem Minimum an Schulbildung abgehen, eine berufliche Qualifikation erreichen und wie sie sich anschließend im Berufsleben etablieren können.

Kernfrage war, ob diese Jugendlichen bei Misserfolgen in der Ausbildung und beruflicher Etablierung häufiger delinquent waren. Auslöser der Studie war, dass die Insassen deutscher Strafanstalten in ihrer Mehrheit weder über einen Hauptschulabschluss noch über eine Berufsausbildung verfügen. In praktisch allen Untersuchungen über Strafgefangene zeigt sich dieses Defizit an schulischer und beruflicher Qualifikation. So verfügen lediglich 13 Prozent der Gefangenen im Jugendstrafvollzug in Nordrhein-Westfalen über einen Berufsabschluss, 13 Prozent haben zwar einen Schulabschluss, aber keine Berufsausbildung, 62 Prozent haben weder noch hinter sich. Für die Kriminologie steht deshalb seit langem fest, dass Leistungsprobleme in Schule, Ausbildung und Beruf kriminogene Wirkungen haben. Stimmt diese Erklärung? Ist der Zusammenhang so einfach?

Die Bremer Hauptschul-Abgängerstudie

Im Mai 1989 führten wir mit allen Hauptschülern und Sonderschülern in Bremen, die sich in der Abgangsklasse befanden, eine erste Befragung durch. Drei Jahre später fand eine zweite Befragung statt, 1995 eine dritte, 1997 die vierte und 2000, also 11 Jahre später, die fünfte und letzte. Damals waren die Befragten im Schnitt 27 bis 28 Jahre alt. Für die Zeit vom Verlassen der Schule bis zum Dasein als gestandene Erwachsene erfassten wir den beruflichen Status und die selbstberichteten Straftaten. Ferner erhielten wir Auskünfte über ihre Straffälligkeit anhand des Bundeszentralregisters.

Zur Teilnahme an der Längsschnittstudie erklärten sich im Jahr 2000 noch 333 Personen bereit, 20 Prozent weniger als zu Beginn der Untersuchungen. Außerdem führten wir mit 79 Abgängern noch mehrere biographische Leitfaden-Interviews durch. Wichtig: Als wir 1989 anfingen, wussten wir von keinem der Schüler, ob er oder sie bis dahin Straftaten begangen hatten. Und natürlich auch nicht, ob sie in den folgenden Jahren Straftaten begehen würden.

Fragt man Strafgefangene rückblickend nach ihrer Schulbildung und beruflichen Qualifikation, weist die Mehrheit – wie gesagt – Defizite auf. Dieser Blick zurück kann aber täuschen. In der Retrospektive scheint der Weg in dauerhafte Straffälligkeit schon mit frühem schulischen und beruflichen Scheitern begonnen zu haben, in der prospektiven Sicht könnte jedoch alles anders aussehen. Bei einem retrospektiven Vergleich zwischen Strafgefangenen und Bürgern wird häufig ein gravierender Fehler begangen. Nicht gesehen wird, dass die Justiz den Verlauf der Ausbildungs- und Arbeitsbiographien als belastend oder entlastend bei der Strafzumessung berücksichtigen könnte. Anders gesagt: Sie könnte sich bei ihren Prognosen bereits auf Bewertungen der Arbeitsbiographie stützen und Gescheiterte eher ins Gefängnis schicken, dagegen beruflich Integrierte eher verschonen. Ein weiterer Aspekt: Von Bestrafungen, von U-Haft oder Freiheitsentzug könnten nachteilige Effekte auf das Arbeitsleben ausgehen. Ob und inwieweit aber selektive Justizentscheidungen und nachteilige Folgen von Strafverfolgung für das Berufsleben bedeutsam sind, kann nur festgestellt werden, wenn in einer prospektiven Längsschnittstudie untersucht wird, wie Schule, Ausbildung und Arbeitsleben sich auf Straftatbegehung auswirken. Und: wie sich Srafverfolgung auf den Lebenslauf auswirkt.

Schulausbildung und spätere Delinquenz

In der Studie fanden sich keine Delinquenzunterschiede in der Zeit nach Schulabgang zwischen Schülern, die mit der mittleren Reife gleichgestelltem Abschluss die Hauptschule oder die Gesamtschule verließen, und solchen mit Hauptschulabschluss. Lediglich bei denjenigen, die während der Schulzeit von der Realschule auf die Hauptschule zurückgestuft wurden, wirkte die Negativerfahrung dann nach, wenn sich Schwierigkeiten bei der Suche nach der Lehre ergaben. Ehemalige Sonderschüler wiesen nach Schulabgang nicht mehr, sondern weniger Delinquenz auf als Hauptschulabgänger – im Gegensatz zur kriminologischen Auffassung, dass die Startposition Sonderschule wie auch das Verfehlen einer Berufsausbildung eine Weichenstellung in weitere Delinquenz darstellen.

In unserer Kohorte zeigte sich praktisch kein Effekt der Schulausbildung auf spätere Delinquenz – mit der Ausnahme, dass nicht verarbeitete Zurückstufung von der Real- zur Hauptschule delinquenzförderlich, und dass andererseits die Sonderschulbiographie delinquenzmindernd war.

Nach dem Schulabgang stieg die Delinquenz bei den Männern durchweg an – vor allem bei den Lehrlingen. Ein Grund dafür könnte sein, dass einige ein „Doppelleben“ führten: Das waren erfolgreiche Lehrlinge, die während der Woche angepasst arbeiteten und am Wochenende oder Feierabend sogar schwere Diebstähle begingen. Sie tarnten bewusst ihre Delinquenz, um ihre Ausbildung nicht zu gefährden. Auch hinsichtlich ihrer mittleren Tathäufigkeit bei der Gesamtdelinquenz und bei einzelnen Deliktgruppen wiesen „erfolgreiche“ im Vergleich zu ungelernten und erwerbslosen Personen praktisch keine signifikanten Unterschiede auf. Bei den Eigentumsdelikten lagen die erfolgreichen Azubis fast durchweg nicht unter dem Mittelwert der Gesamtgruppe, sondern darüber. Auch wer in der Qualifizierung scheiterte, wies einen höheren Mittelwert auf. Arbeitslosigkeitserfahrungen erhöhten die Delinquenzbelastung nicht.

Für die Jugenddelinquenz scheinen also andere Faktoren entscheidender zu sein, zum Beispiel der Einfluss der Cliquen. Interessant war auch, dass frühere Justizkontakte durchweg zu Delinquenzsteigerung beitrugen. Das heißt: Wer sanktioniert wurde, war in der Folgezeit delinquenter. Der einzige Zusammenhang zwischen Situationen des Scheiterns und Delinquenz zeigte sich bei der Gruppe jener Lehrabbrecher, die nach Abbruch wieder eine Ausbildung aufnahmen und diese auch abschlossen, somit also letztlich eine positive berufliche Entwicklung erlebten. Sie zeigten einen Anstieg der Delinquenzbelastung parallel zur Zeit des Stellenwechsels.

Betrachtet man alle unqualifiziert Tätigen und die an der Qualifizierung Gescheiterten, so zeigt sich, dass fehlende berufliche Qualifikation – entgegen der üblichen Erwartung der Kriminologie – kein erhöhtes Delinquenzrisiko darstellt. Auch bezüglich der Gesamtdelinquenz traten keine signifikanten Unterschiede zu den Erfolgreichen auf.

Im Gegensatz zur selbstberichteten Delinquenz war aber der Anteil von Ungelernten, die im Bundeszentralregister erfasst sind, höher als der der Qualifizierten. Die Jugendlichen mit erfolglosen Berufsbiographien sind dem selektiven Zugriff der Kontrollinstanzen offenbar stärker ausgesetzt.

Auch wer arbeitslos wurde, wies keine erhöhte Delinquenz auf. Eine das gesamte Beobachtungsfenster umfassende Analyse bekräftigte die Bedeutungslosigkeit vorangegangener Arbeitslosigkeitsphasen. Allerdings war die Arbeitslosigkeit doch mit Straffälligkeit korreliert. Man kann sagen: vor allem eine wiederkehrende, durch Sanktionierungsprozesse stabilisierte Arbeitslosigkeit erhöht das Risiko weiterer Delinquenz.

Straftaten trotz glattem Berufseintritt

Betrachtet man den Übergang von erfolgreich beendeter Ausbildung in den Arbeitsmarkt und die anschließende berufliche Etablierung, so zeigen sich wieder nur schwache Zusammenhänge zwischen Delinquenz und Erfolg oder Misserfolg. Denn auch diejenigen, die einen glatten Berufseintritt schafften, hielten noch relativ lange an Delinquenz fest. Nur langfristig förderte eine berufliche Etablierung Konformität. Dagegen wurden erfolgreich Qualifizierte, die sich längerfristig nicht etablieren konnten, in weit höherem Maße delinquent als solche, denen die Etablierung gelungen war. Insofern sind die von der Kriminologie unterstellten Zusammenhänge zwischen schulischen und ausbildungsbezogenen Defiziten sowie hinsichtlich der Integration in das Arbeitsleben durch unsere Studie widerlegt worden.

So wirken die Sanktionen der Justiz

Der wichtigste Befund unserer Studie ist jedoch, dass – wenn Jugendliche in gleichem Maße delinquent sind – diejenigen, die von Staatsanwaltschaft und Justiz sanktioniert wurden, eher ihre Ausbildung abbrachen oder einen beruflichen Abstieg erlitten, als diejenigen, deren Delinquenz im Dunkelfeld verblieb. Da Strafverfolgung oft Probleme in der Arbeitsbiographie nach sich zieht, fördert die Interaktion von beidem spätere Delinquenz. Die Akkumulation von Nachteilen im Lebensverlauf, z.B. durch Sanktionserfahrungen mit darauf folgenden Abwärtsspiralen in Ausbildung und Beruf, stellt einen Mechanismus dar, der andauernde Straffälligkeit stabilisiert.

Tatsächlich gibt es einen Zusammenhang zwischen Arbeitsleben und Straffälligkeit, aber er muss auf ganz andere Weise gedacht werden: nämlich als Ergebnis der Übersetzung der „protestantischen Ethik“ in Anwendungsregeln des Strafrechts durch die Instanzen der Strafverfolgung. Viele Untersuchungen zeigen, dass in der jugendrichterlichen Praxis Aspekte der Arbeitsmoral für die Sanktionsauswahl bedeutsam sind. Wenn „schädliche“ Neigungen bejaht wurden, so oft deshalb, weil Eigenschaften wie „einsatzbereit“, oder „anständig“ vermisst wurden. Bei unserer Analyse der Strafakten von Mitgliedern der Bremer Abgänger zeigte sich, dass auch für Bremer Staatsanwälte und Richter die Berufsbildungs- und Arbeitsbiographie für die Sanktionswahl von großer Bedeutung ist. Wer gut arbeitet, verdient Milde. Durchgängig erscheint Arbeitslosigkeit als Nachteil, gleichgültig ob es sich um die Anordnung von Untersuchungshaft oder die Auswahl der Sanktionen handelt. Eine stabile Beschäftigungsbiographie mindert das Risiko, inhaftiert zu werden zugunsten von Bewährungs- oder Geldstrafen. Unser Wissen über den Zusammenhang zwischen Arbeitsmoral, Arbeitsverhalten bzw. Arbeitsbiographie und Straffälligkeit deutet also darauf hin, dass in den Köpfen der Strafjuristen ein Zusammenhang zwischen Müßiggang und Kriminalität gesehen wird, und diese Alltagstheorie den Ermessensgebrauch bei ihren Entscheidungen beeinflusst. Anders gesagt: Wenn es überhaupt Korrelationen gibt, dann zwischen der Arbeitsbiographie der Täter und der Sanktionsentscheidung der Strafjuristen.

Dieser Befund ist alarmierend. Ohne es zu erkennen, reagieren Juristen auf die Täter häufig so, als hätten diese Schuld an dem – von den Juristen – konstruierten Zusammenhang. Und tragen durch die Benachteiligung von Personen mit unregelmäßiger Arbeitsbiographie dazu bei, dass es diesen noch schwerer fallen muss, Kontinuität und Stabilität im Arbeitsleben zu erreichen. Mehr noch: Hier ist der klassische Fall gegeben, dass Selektionsmechanismen der Justiz „abweichenden“ Personen als Kriminalitätsursache zugeschrieben werden. Besser lässt sich eigentlich kaum der ideologische Charakter der ätiologischen Kriminologie aufweisen.

Was folgt daraus? Erstens darf die Arbeitsbiografie nicht als Prädiktor bei der Stellung von Prognosen herangezogen werden. Zweitens muss man wohl die Überzeugung fallen lassen, wenn man Strafgefangene während der Haft beruflich qualifiziere, sei dies die beste Resozialisierung. Die in Gefängnissen angebotenen Ausbildungen (Schlosser, Maler, Gärtner etc.) erlauben höchst selten berufliche Etablierung nach Entlassung und haben kaum Potenziale der Rückfallverhinderung. Insbesondere den Jugendstrafvollzug muss man warnen vor der gutgemeinten Strategie, Jugendlichen und Heranwachsenden ein Nachholen von allgemeiner und Berufsbildung mehr oder weniger aufzunötigen. Ihre fehlenden Abschlüsse spiegeln meist eine lange Ausgrenzungsentwicklung im Lebenslauf wider, die nicht so einfach unvergessen gemacht werden kann. Vielleicht mag ein Gesellenbrief insofern positiv wirken, als er bei Arbeitgebern Vorurteile gegenüber Vorbestraften kompensieren und insofern die Chance auf einen Arbeitsvertrag verbessern könnte. Auch mag er dazu beitragen, dass im Falle eines Rückfalls Richter Milde üben, weil der Gesellenbrief hinreichende Arbeitsmoral beweise. In beiden Fällen mindert das Zertifikat Vorurteile Dritter, fördert aber nicht die Resozialisierung durch tragfähige Qualifizierung.

Drittens müssen Richter bei ihrer Strafzumessung beachten, dass durch jede Inhaftierung nachweislich die Integration in stabile Arbeitsverhältnisse stark behindert wird und stabile Arbeitsverhältnisse auf Dauer unterminiert werden. Wichtig ist also, dass die Strafjustiz die negativen Wirkungen endlich zur Kenntnis nimmt, die von den Reaktionen der Strafverfolgungsorgane auf das Arbeitsleben ausgehen. Auf eine Formel gebracht: Es wäre viel gewonnen, wenn die Organe der Strafjustiz, aber nicht nur sie, sondern wohl wir alle, das Gedankengefängnis „Arbeit schützt vor Kriminalität“ aufgeben und nicht länger jene benachteiligen, deren Arbeitsleben von mangelnder Kontinuität oder gelegentlicher Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist.

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