„An der Grenze zur Hetze“

Safter Cinar, Sprecher des Türkischen Bundes, ist entsetzt über die Äußerungen des Historikers Hans-Ulrich Wehler zum deutschen „Türkenproblem“. Auch SPD-Chef Strieder bringt ihn auf die Palme

Interview SABINE AM ORDE

taz: „Die Bundesrepublik hat kein Ausländerproblem, sie hat ein Türkenproblem. Diese muslimische Diaspora ist im Prinzip nicht integrierbar.“ Was sagen Sie zu diesen Aussagen des Historikers Hans-Ulrich Wehler, Herr Cinar?

Safter Cinar: Herr Wehler, der eigentlich als fortschrittlicher Historiker gilt, zieht in einer ungeheuerlichen Weise über den Islam und über die Türken her. Das ist an der Grenze zur Hetze. Eine Ethnie mit einem Problem gleichzusetzen, allein das ist schon infam. Dass sich Menschen mit muslimischer Sozialisation in einem christlich sozialisierten Land etwas schwieriger anpassen, liegt in der Natur der Sache. Aber für diese grundsätzliche Annahme gibt es einfach keine Rechtfertigung. Bei allen Schwierigkeiten: Die über drei Millionen Muslime in der Bundesrepublik leben ganz normal wie alle anderen auch.

Wehler sagt, genau die seien ein Beispiel dafür, dass das friedliche Zusammenleben nicht klappt. Auch in Berlin werden Zweifel laut. Von türkischen Gettos ist die Rede – kein Zeichen für gutes Zusammenleben.

Es stimmt natürlich, dass es einen regen Wegzug aus manchen Quartieren zum Beispiel in Kreuzberg oder Wedding gibt. Aber das gilt nicht nur für Deutsche, sondern auch für die türkische Mittelschicht. Es handelt sich also vor allem um eine schichtenspezifische Angelegenheit, um ein soziales Problem.

Auch die, die in diesen Quartieren bleiben, sprechen häufig bestenfalls von einem Nebeneinander der Kulturen.

Das ist schwer zu messen. Es gibt in Kreuzberg viele türkische Familien, die gute Kontakte zu Deutschen haben. Und es gibt auch Familien, die Kontakte meiden. Man muss sich ja auch nicht lieben, wenn man in demselben Viertel wohnt. Ein Problem ist doch, dass Schwierigkeiten, die dort entstehen, sehr schnell auf die ethnische Herkunft geschoben werden. Das ist einfach falsch und hilft nicht weiter. Unsere Kritik an Wehler richtet sich aber auch gegen sein klares Nein zum EU-Beitritt der Türkei …

mit dem Argument, ein muslimisches Land habe in der EU nichts zu suchen.

Genau, Helmut Kohl hat die EU ja auch für einen christlichen Klub gehalten. Man kann auch platt sagen: In der Nato dürfen die Türken für Europa sterben, aber in die EU dürfen sie nicht. Das geht doch nicht. Der EU-Beitritt ist wichtig – für Europa und für die Türkei.

Auch Peter Strieder hat jüngst Zweifel an einem funktionierenden Zusammenleben geäußert. In einem Papier hat der SPD-Landeschef geschrieben, die deutsche Gesellschaft müsse mehr Anforderungen an die Einwanderer stellen, die wiederum sich in der Großstadt von ihren ländlichen Lebensweisen trennen müssten …

Dabei hat er vor allem zwei Probleme angesprochen: das Umweltbewusstsein und ob die Eltern durch ihr Verhalten die Schulerfolge ihrer Kinder behindern. Das ist im Prinzip okay. Aber er hat diese Probleme in einer überzogenen Tonlage mit der ethnischen Herkunft der Menschen verbunden, was nicht angebracht ist. Die Verhaltensweisen, die er kritisiert, sind in erster Linie keine Frage der ethnischen Herkunft, sondern der Schichtzugehörigkeit. Und er hat sich im Ton vergriffen.

Strieder sagt, Sie ärgern sich nur, dass jemand die Missstände mal deutlich ausspricht.

Nein, es geht nicht darum, etwas deutlich auszusprechen, sondern mit welchem Unterton etwas gesagt wird. Und der war eindeutig falsch. Da gibt es Parallelen zu Wehler. Uns hat das umso mehr erschreckt, weil Strieder bislang – und besonders in seiner Zeit als Kreuzberger Bürgermeister – eine viel sensiblere Position hatte.

Welche Parallelen sehen Sie zu Wehler?

Dieser Unterton. Strieder hat mit manchem inhaltlich durchaus Recht: Natürlich müssen sich Menschen, die vom Land nach Berlin kommen, auf die Gepflogenheiten der Stadt einstellen. Bei Strieder ist das Problem weniger der Inhalt, sondern der Ton, in dem er das vorgebracht hat. Bei Wehler ist es auch der Inhalt.

Was stört Sie an Strieders Ton?

Er suggeriert: Wir haben zu viel Toleranz gezeigt. Das stimmt nicht und schürt negative Emotionen. Er bricht Probleme, die andere Ursachen haben, auf die ethnische Herkunft, besonders auf die türkische Herkunft, herunter. Wenn Strieder in seinen Beispielen gesagt hätte, wir müssen die Eltern informieren und motivieren, wie sie ihre Kinder besser in ihrem schulischen Erfolg unterstützen können, und dazu gehört, dass die Kinder morgens ausgeschlafen in die Schule gehen – das wäre etwas anderes. Aber er erzählt, er läuft nachts durch die Hinterhöfe und sieht türkische Kinder – und das ist ein ethnisches Problem.

Wir reden über zwei überraschende Statements. Was glauben Sie, warum kommen die zum jetzigen Zeitpunkt?

Für Strieder spielt sicher die Bundestagswahl eine Rolle. Bislang war Einwanderung kein großes Wahlkampfthema, aber das scheint sich in der letzten Woche zu ändern. Wenn ich mir Stoiber und Beckstein so anschaue …

Strieder auf Schily-Kurs? Kann die SPD so in Berlin Stimmen holen?

Ich hoffe, auf diese Art nicht. Für den Zeitpunkt ist aber noch etwas anderes wichtig. Generell beobachten wir auch in anderen Ländern wie den USA und Großbritannien eine fatale Entwicklung: Nach dem 11. September hat man überall versucht, über Islam aufzuklären und Islam und Terror zu trennen. Jetzt gibt es wieder mehr den Trend, die beiden zusammenzuführen und einfach zu vermischen. Vielleicht hat sich Herr Wehler in Deutschland dieser Aufgabe verschrieben.

Was können die Konsequenzen von Äußerungen sein, wie sie Wehler und Strieder gemacht haben?

Das wirkt sich für beide Gruppen, die „christliche“ Mehrheit und die „muslimische“ Minderheit, negativ aus. In der ersten Gruppe werden Emotionen entfacht, die zweite fühlt sich diskriminiert. Und je mehr man sich angegriffen fühlt, desto weniger gibt es die Neigung, sich der Mehrheitsgesellschaft zu öffnen. Das passiert manchmal auch über den Rückzug in nationalistische oder religiöse Muster.

Beobachten Sie diesen Trend bereits?

Es gibt keinen wirklich neuen Trend. Aber ich stelle derzeit bei Gesprächen über den Wahlkampf fest, wie desillusioniert die Leute darüber sind, wie die Mehrheitsgesellschaft mit ihnen umgeht.

Was heißt das konkret?

Wenn wir Leute fragen, die eingebürgert sind und am Sonntag wählen dürfen, ob sie zur Wahl gehen, dann hören wir oft: „Warum sollte ich? Ich weiß doch, was die mit uns machen. Die ganzen Maßnahmen sind gegen uns gerichtet.“ Diese Einstellung ist verbreitet.

Gehen die Parteien im Wahlkampf gegen diese Entwicklung an?

In den Wahlkreisen, in denen es auf die türkischen Stimmen ankommt, sind sie schon sehr aktiv. Da gibt es Flyer auf Türkisch, in Friedrichshain-Kreuzberg zum Beispiel laufen die Direktkandidaten von einem türkischen Verein zum anderen. Das gilt eigentlich für alle Parteien. Außerdem rufen die türkischen Medien und auch die Vereine wie der Türkische Bund massiv dazu auf, zu wählen.

Trotz allem haben die türkischen Berliner eine starke Affinität zu den Sozialdemokraten. Leidet sie unter Äußerungen wie denen von Peter Strieder?

Hilfreich ist es nicht. Es gibt diese Affinität zur SPD und das hat viel damit zu tun, dass die erste Generation als Arbeitnehmer gekommen ist und gewerkschaftlich stark organisiert war. Das setzt sich in gewisser Weise fort. Aber es gibt inzwischen Differenzierungen, die zumindest von der gesellschaftlichen Entwicklung her zu begrüßen sind. Mit dem Entstehen einer türkischen Mittelschicht wachsen auch die Sympathien für CDU oder FDP.

Gibt es in der türkischen Community die Einschätzung, dass Rot-Grün besser für die Einwanderer ist?

Das würde ich stark bezweifeln. Wir haben die Schwierigkeiten beim Staatsbürgerschaftsrecht gesehen, beim Einwanderungsgesetz und das Kuschen in Sachen Antidiskriminierungsgesetz. Rot-Grün hat die Erwartungen bei weitem nicht erfüllt. Aber man kann von dieser Koalition immerhin erwarten, dass sie nicht ganz so viel verschärfen wird wie die Union. Nach den letzten vier Jahren mehr aber auch nicht.