Proteste in Israel: Orthodox und gegen Bibi
Vor allem in Tel Aviv ist der Protest gegen die rechtsreligiöse Koalition Israels stark. Doch auch bei Siedlern formiert sich Widerstand.
M oshe Beigel ist einer der ersten, die zur Demo kommen. Moshe ist nicht zu übersehen, er ist wohl an die zwei Meter groß. Er trägt ein dunkelblaues T-Shirt, auf dem in weißen Lettern steht: „Frei in unserem Land.“ Auf Hebräisch sind das nur zwei Wörter – „chofschi beartzenu“ – ein Zitat aus der israelischen Nationalhymne, Hatikwa. Wir befinden uns in der Siedlung Efrat, einige Kilometer jenseits der Grünen Linie, die seit dem Waffenstillstandsabkommen von 1949 als international anerkannte Grenze gilt. Knapp 12.000 Einwohner hat die Siedlung, die vor 40 Jahren gegründet wurde. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich einige palästinensische Städte und Dörfer.
Es ist Samstagabend, kurz vor neun. Die Sonne ist vor einer guten Stunde untergegangen, der Schabbat ist vorbei. Seit Anfang dieses Jahres wird an vielen Orten in Israel an jedem Samstagabend gegen die Reformpläne der ultrarechten Regierung unter Ministerpräsident Netanjahu protestiert. Viele im Land befürchten, dass die von der Regierung bereits in Gang gesetzte Justizreform, aber auch viele andere ihrer insgesamt 225 Gesetzesvorhaben, die Gewaltenteilung aufheben und demokratische Rechte stark einschränken werden.
Zwar dominieren die Bilder der Massenproteste in Tel Aviv und Jerusalem die Berichterstattung, aber der Widerstand reißt auch an vielen kleinen Orten nicht ab. In Efrat versammeln sich an diesem Augustabend peu a peu gut 50 Menschen. Sie tragen israelische Flaggen und haben blau-weiße Banner aufgehängt. Auf einem steht: „Links und rechts gegen die Zerstörung.“
Ein Samstag wie jeder andere, und eine kleine Demonstration. Nichts Außergewöhnliches, könnte man meinen. Kämen die Menschen, die hier demonstrieren, nicht aus dem nationalreligiösen Lager. Sie wohnen in der Siedlung und der nahen Umgebung. Auch Moshe Beigel lebt seit 30 Jahren mit seiner Familie hier. Vor 40 Jahren ist er aus Großbritannien nach Israel eingewandert.
Efrat gilt als moderate Siedlung. Hier werden die Straßen am Schabbat nicht für den Verkehr geschlossen. Es leben religiöse Menschen aller Schattierungen hier, inzwischen auch einige säkulare Israelis, erzählt Moshe Beigel. „Wir kommen meist sehr gut miteinander klar. Wir hoffen, dass das so bleibt.“ Die Gegend ist schön, das Klima angenehm, die Wohnungen sind billiger.
Tel Aviv ist weit weg. Dort schwitzen die Leute jetzt in der schwülen Abendhitze. In Efrat weht ein kühler Wind. Alle Männer auf der kleinen Demonstration tragen Kippa, viele Frauen haben ihr Haar bedeckt. Die meisten bezeichnen sich als orthodox.
Auch Moshe Beigel trägt Kippa. Das hat er schon als junger Mann in London getan. Er trug seine Kippa, obwohl er sich mit ihr als Jude outete und im England der 1970er und 1980er Jahre nicht vor antisemitischen Anfeindungen sicher fühlen konnte. Er war immer stolz darauf, die Kippa zu tragen, sagt Moshe. Inzwischen sei er zwar weniger stolz als früher, aber das sei nun mal seine Identität. „Und die lasse ich mir von niemand wegnehmen.“ Moshe Beigel reagiert inzwischen auf seine eigene Kippa wie viele säkulare Menschen in Israel. Sie ist für sie zum politischen Symbol für den Rechtsruck, wenn nicht gar für eine drohende Diktatur durch die Extremisten der Siedlerbewegung geworden, die nun in Netanjahus Regierung den Ton angeben.
Als Folge des Sechs-Tage-Kriegs von 1967 hatte die israelische Armee das Land zwischen der Waffenstillstandslinie von 1949 und dem westlichen Ufer des Jordan besetzt. Die Zeit der Siedlungsbewegung war gekommen: Die Männer vom Gusch Emunim – „Block der Treuen“ – präsentierten sich wie die alten Siedlerpioniere in ausgemusterten Armeeparkas und groben Hemden, darunter lugten allerdings die weißen Schaufäden hervor, die orthodoxe Juden tragen.
Sie stürmten Mitte der 1970er Jahre „wie ekstatische Anhänger einer kultischen Sekte“ ins israelische Bewusstsein, schrieben die Historikerin Idith Zertal und der Journalist Akiva Eldar, die vor 20 Jahren die erste umfassende Studie über die Bewegung vorlegten. Seitdem habe die Siedlungsbewegung der israelischen Gesellschaft ihren Stempel aufgedrückt.
Die Erlösungsideologie des Gusch Emunim gründete sich auf die Schriften von Zvi Yehuda Kook, dessen Vater Avraham Jitzchak Hacohen Kook Anfang des 20. Jahrhunderts nach Palästina eingewandert war. Kook, der Ältere, erklärte, der künftige Staat Israel werde der heilige „Wohnsitz Gottes“ sein. Theodor Herzl, den Vordenker des modernen Staats Israel, lobte er als Messias aus dem Hause Joseph, weil Herzl die Rückkehr nach Zion eingeleitet hatte.
Der säkulare Zionismus stimme mit dem göttlichen Plan überein, erklärte Kook. Kook war ein anerkannter Schriftgelehrter, der den künftigen Staat Israel mit Blick auf seine religiöse Bedeutung interpretierte. Sein Sohn Zvi Yehuda Kook wurde jedoch zur führenden spirituellen Kraft einer Gruppe nationalreligiöser junger Leute, die den inzwischen gegründeten säkularen Staat verändern wollten, „der nicht zulässt, dass die Tora Israels Gestalt bestimmt“. Mit den Mitteln direkter Aktion und politischer Einflussnahme wollten sie selbst am göttlichen Erlösungsplan mitwirken. Sie würden das ganze Land besiedeln.
Unterstützt wurde der Gusch Emunim dabei von allen israelischen Regierungen, ob links oder rechts. Der Block war keine Partei, sondern eine Erlösungsbewegung, die ständig neue Siedlungen errichtete und vor Hetzkampagnen gegen Politiker nicht zurückschreckte, wenn diese weniger messianischen Eifer an den Tag legten als sie selbst. Der Bewegung gelang es im Lauf der Jahrzehnte, Abermillionen Schekel in die Infrastruktur von Siedlungen zu lenken – und die Nationalreligöse Partei in eine immer extremere Richtung zu drehen, bis diese sich auflöste. Heute sitzen die „Soldaten des Messias“ in der Regierung.
Tsuf Peles ist einer von denen, die mit anderen Augen auf den nationalreligiösen Teil der Bevölkerung blicken als früher. Tsuf Peles wohnt in Tel Aviv. Er lebt säkular, denkt liberal und arbeitet in der Hightech-Branche. Er ist ein typischer Vertreter der Tel Aviver Protestbewegung. Als er gefragt wurde, ob er einen deutschen Journalisten von Tel Aviv nach Efrat bringen könne, meldete er sich bei mir. Orthodoxe Juden aus einer Siedlung, die gegen die Regierung demonstrieren und für die Demokratie kämpfen? Das wollte er sich auch selbst gern anschauen.
Wenn er heute einen Mann mit Kippa sähe, erzählt mir Tsuf im Auto auf dem Weg nach Efrat, frage er sich unwillkürlich, ob das auch einer dieser Extremisten sei, die sich gegen die israelische Demokratie verschworen haben. Dass das ein Klischee ist, weiß Tsuf Peles. Der Gedanke sei ihm unangenehm, aber er lasse sich nicht mehr verscheuchen. Der Graben zwischen Säkularen und Gläubigen ist tiefer geworden – und eben deswegen will Tsuf mich nach Efrat fahren. Er zeigt auf den Verkehr vor uns: „Schau, wir fahren hier gemeinsam mit Palästinensern, das ist normal und es sollte auch normal sein, wir leben hier zusammen.“
Moshe Beigel aus Efrat weiß inzwischen, wie es ist, mit den Augen von Leuten angeschaut zu werden, die vorbehaltlos hinter der Regierung stehen – obwohl er selbst aus dem nationalreligiösen Lager kommt: „Als ich kürzlich von einer Demonstration in Jerusalem kam – ich hatte eine israelische Fahne dabei – rief mir jemand aus dem Auto zu: ‚Geh doch zurück nach Berlin!‘“ Die Botschaft war unmissverständlich: Leute wie Moshe, die gegen die Regierung demonstrieren, hätten in Israel nichts zu suchen. Sie seien bestens in der Diaspora, in Berlin aufgehoben, wohin es viele Israelis wegen der schwierigen Wirtschaftslage, aber auch wegen der Dominanz rechter Politik in ihrer Heimat gezogen hat.
Das traf Moshe Beigel ins Herz. „Ich bin ein Kind von Holocaustüberlebenden. Mein Vater stammt aus Hannover, meine Mutter aus Moers. Eines meiner Kindheitstraumata ist, dass uns in England Leute anonym anriefen und sagten: Geht zurück nach Deutschland!“ So etwas nun auch hier, in Israel, zu hören, sei sehr traurig, sagt Moshe. „Aber wir werden es schaffen, wir haben keine andere Wahl.“
Die Reform
Die israelische Protestbewegung richtet sich gegen viele der Gesetzesvorhaben der Regierung. Im Fokus stand aber von Anfang an die geplante Justizreform. Vor allem ein Gesetz betrachten Kritiker als Versuch, die Gewaltenteilung auszuhebeln. Israels Oberstes Gericht soll Entscheidungen des Kabinetts oder von Ministern nicht mehr als „nicht angemessen“ zurückweisen dürfen, weil sie politische Interessen über individuelle Rechte, Menschenrechte, das Gemeinwohl oder das öffentliche Interesse stellen.
Die Anhörung
Acht Eingaben gegen das neue, noch vor der Sommerpause von der Knesset erlassene Gesetz sind beim Obersten Gericht eingegangen. Am Dienstag tagte das Gericht erstmals in seiner Geschichte in voller Besetzung, die Mehrheit der Richterinnen und Richter sprach sich in dieser ersten Sitzung gegen das Gesetz aus. Sollte das Gericht bei seiner Haltung bleiben, werde die Regierung die Gründung eines Verfassungsgerichts ins Auge fassen, sagte Knesset-Sprecher Amir Ohana am Donnerstag.
Sie seien zwar nur ungefähr hundert, die in Efrat gegen die Regierung und für Demokratie demonstrieren. Es falle vielen nicht leicht, auf eine Demonstration zu gehen, meint Moshe. Dass das versprengte Häuflein am Verkehrskreisel aber nicht allein auf weiter Flur ist, zeigt sich, wenn Autos vorbei kommen und die Fahrerinnen und Fahrer zustimmend hupen.
Allerdings haben bei der letzten Wahl 48 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Efrat für die Religiösen Zionisten gestimmt, auf deren Liste sich auch die Splitterparteien Otzma Yehudit und Noam befanden. Sie gaben ihre Stimmen also dem nationalreligiösen Extremismus. Die Partei des Religiösen Zionismus wurde vom mythischen „ersten Siedler“ Hanan Porat auf den Trümmern der einst als Kraft der linken Mitte geltenden Nationalreligiösen Partei gegründet.
Der derzeitige Vorsitzende der Religiösen Zionisten, Bezalel Smotrich, ist Finanzminster der Regierungskoalition. Er ist bekennender Homophober und Ultranationalist. Nach einem Mordanschlag auf zwei junge Siedler in Huwara und einem darauffolgenden Pogrom radikaler Siedler hatte Smotrich erklärt, der Staat solle die palästinensische Kleinstadt dem Erdboden gleichmachen. Später bat er dafür um Entschuldigung.
Der Vorsitzende der Noam, der zweiten Partei auf der Liste der Extremisten, ist ein Rabbiner. Er hat sich vor allem mit seiner Feindseligkeit gegenüber der LGBTIQ-Gemeinde einen Namen gemacht. Itamar Ben-Gvir von Otzma Jehudit, der dritten Partei im Bunde der religiösen Ultranationalisten, ist ein Schüler von Rabbi Meir Kahane, der in den 1980er Jahren vor leerem Plenum sprechen musste, wenn er in der Knesset eine Rede hielt. Trat er ans Pult, verließen bis auf den Parlamentsvorsitzenden und die Stenotypistin alle Mitglieder der Knesset den Saal. Die Brandmauer gegen Extremisten stand damals noch. Selbst das nationalreligiöse Lager wollte mit Kahane nichts zu tun haben. Heute ist sein Schüler Itamar Ben-Gvir als Minister für die Sicherheit des Landes und damit auch für die Polizei verantwortlich.
In einer Talkshow sagte Ben-Gvir jüngst einem arabisch-israelischen Journalisten, der in der Runde saß: „Sorry, Mohammad, mein Recht, das Recht meiner Frau und meiner Kinder, sich frei in Judäa und Samaria zu bewegen, ist wichtiger als die Bewegungsfreiheit von Arabern. Das Recht auf Leben ist wichtiger als das Recht, sich ungehindert bewegen zu können.“
Judäa und Samaria sind die biblischen Namen für die von Israel kontrollierten Gebiete westlich des Jordans. Moderate Kritiker Ben-Gvirs warfen dem Minister daraufhin Rassismus vor. Linke kommentierten trocken, Ben-Gvir beschreibe doch nur, wie es auf der Westbank zugehe. Das Problem sei nicht das Bekenntnis des Ministers zu jüdischer Überlegenheit, sondern die Tatsache, dass sie seit Jahrzehnten von Staat und Armee gegenüber den Palästinensern durchgesetzt werde.
Ich frage Moshe Beigel, warum er heute Abend hier ist. „Wir machen uns Sorgen über die demokratische Zukunft Israels“, antwortet er. Sie wollten Israel als moderne, offene Gesellschaft erhalten. Inzwischen ist er optimistisch, dass die Protestbewegung Erfolg haben wird. „Die Regierung beginnt langsam zu verstehen, dass die Mehrheit der Menschen in Israel gegen eine Diktatur ist. Religiösen Fanatikern wird es nicht gelingen, eine säkulare jüdische Gesellschaft zu ruinieren.“
Politisch stehe er rechts, sagt Moshe – eben deswegen sei er hier. Der Likud, die Partei des Ministerpräsidenten, der er früher selbst angehörte, gehe in die Irre. „Vor Kurzem wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben als Linker bezeichnet – von einem meiner Nachbarn. Dabei bin ich alles andere als ein Linker.“ Moshe Beigel ist Zionist. Er betrachtet die Gebiete westlich des Jordans als einen Ort, an dem Juden leben können sollten. Efrat ist nur zwölf Minuten von Jerusalem entfernt.
Er könne den Tempelberg von seinem Haus aus sehen. „Das ist kein fremdes Land hier,“ sagt er, und ergänzt: „Kein Araber wurde von diesem Stück Land hier vertrieben. Wir leben so friedlich wie möglich mit unseren arabischen Nachbarn zusammen, aber wir müssen realistisch sein.“ Wie stellt er sich die Zukunft des Landes vor? „Alle bleiben in ihren Häusern, keiner muss wegziehen. Es soll einen jüdischen Staat geben und ein wie auch immer geartetes Gemeinwesen für die Araber, über das noch entschieden werden muss.“
Inzwischen ist die Versammlung am Verkehrskreisel in Efrat größer geworden, und Avidan Freedman, Anzughose, blaues Hemd, greift zum Mikrofon. Die Leute bilden einen Halbkreis. Freedman ist einer der Organisatoren des Protests in Efrat. Der ausgebildete Rabbiner arbeitet als Lehrer in einer Schule für Jungen in Jerusalem. Dort unterrichtet er den Talmud, jüdische Geschichte und Recht. Dass er sich politisch einmischt, ist für ihn nichts Neues. Vor einigen Jahren hat er eine Organisation gegründet, die sich gegen israelische Waffenexporte an Diktaturen engagiert.
Freedman zitiert aus dem Abschnitt der Tora, der an diesem Schabbat gelesen worden ist. Es trifft sich, dass dieser Abschnitt vom Recht handelt, dem sich auch die Könige zu beugen haben. Die berühmteste Stelle lautet: „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – ihr sollst du nachjagen, damit du Leben hast und das Land in Besitz nehmen kannst, das der Herr, dein Gott, dir gibt.“
Auf Freedman folgen weitere Rednerinnen und Redner. Ein Rabbiner zitiert aus den Schriften von Kook, dem Älteren. Auch ein Ex-General, der einige Jahre das Büro von Netanjahu geleitet hat und nun gegen dessen neue Regierung kämpft, hat die Einladung nach Efrat angenommen. Zwischendurch wird Musik gespielt. Am Ende singen alle die Nationalhymne.
Vorher aber hat sich noch Tsuf Peles gemeldet und gefragt, ob er auch ein paar Worte sprechen dürfe. In Tel Aviv zu demonstrieren sei keine Kunst, sagt er, hier aber schon. Dafür zolle er den Demonstranten von Efrat Respekt. Es sei in der Tat nicht leicht, erzählt nach dem Ende der Demo eine Frau, die schon lange in Efrat lebt. Weder mit ihren Nachbarn könne sie über die Lage im Land sprechen, noch mit ihrer Familie. Alle stünden vorbehaltlos hinter der Regierung. Das schmerze sie, weil es hier nicht um Politik gehe, sondern um grundlegende Werte, über die sich doch alle einig sein sollten.
Aus den Augen, aus dem Sinn
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Andere Gläubige haben es leichter. In einem Interview, das ich später mit Shira Ben Sasson Furstenberg via Zoom führe, erklärt mir die Aktivistin, sie lebe im Süden Jerusalems in einer Welt, in der sich Religiösität und Linkssein nicht ausschließen. Shira Ben Sasson Furstenberg ist orthodox. Sie bedeckt ihr Haar, wenn sie das Haus verlässt. Aber sie geht in eine egalitäre Synagoge, in der auch Frauen aus der Tora lesen. Sie kommt wie die Siedler in Efrat aus dem nationalreligiösen Lager. Ihr Großvater Josef Burg, der aus Deutschland stammte, war Vorsitzender der Nationalreligiösen Partei und Minister in verschiedenen israelischen Regierungen.
Shira Ben Sasson Furstenberg ist stellvertretende Direktorin des New Israel Fund, einer Organisation, die sich für eine gerechte und inklusive Gesellschaft einsetzt, und sie ist Mitglied der kurz nach den Wahlen gegründeten Gruppe HaSmol HaEmuni – die Linke der Gläubigen. „Wir haben den Namen gewählt, weil in unserer Gruppe das gesamte traditionelle religiöse Spektrum vertreten ist, von orthodoxen bis ultra-orthodoxen Gläubigen.“ Als Kind habe sie in der Jugendbewegung der Nationalreligiösen Partei gelernt, sich ein Dreieck vorzustellen, erzählt sie. Dessen drei Ecken bestünden aus dem Volk, dem Land und der Tora Israels, und es sei die Aufgabe aller, diese drei Punkte in ihrem täglichen Tun zu verknüpfen. Heute stehe im nationalreligiösen Milieu das Land über allem, kritisiert sie.
Für die erste Konferenz, die HaSmol HaEmuni in Jerusalem organisierte, meldeten sich knapp 1.000 Menschen an, 700 kamen. Dann begann die Gruppe, auch zu Demonstrationen zu gehen. Als Zehntausende im Juli nach Jerusalem marschierten, um gegen die Verabschiedung des ersten Teils der Justizreform in der Knesset zu demonstrieren, brachte Shira Ben Sasson Furstenberg die Torarolle ihrer Familie zur Zeltstadt der Protestierenden in der Nähe des Parlaments. Dort folgten an die hundert Menschen dem Ruf von HaSmol HaEmuni zum Gebet.
Die Symbolwirkung der Teilnahme gläubiger Juden an den Protesten ist kaum zu unterschätzen. Denn einer der Gründe der derzeitigen Spaltung des Landes liegt in der Unterscheidung zwischen „Juden“ und „Israelis“. Einer der amerikanischen Spindoktoren Benjamin Netanjahus erfand diesen Unterschied, um aus dem Antagonismus politisches Kapital zu schlagen: Die Unterstützer Netanjahus sollten das Gefühl haben, sie verträten das jüdische Erbe, während alle anderen verrückte Linke seien, die ihr Judentum angeblich vergessen hätten.
Nun aber gibt es auch orthodoxe Juden aus dem nationalreligiösen Lager, die gegen die Regierung und ihre Politik demonstrieren. Das dürfte den Thinktanks, die Netanjahu mit Strategien für den Kulturkampf füttern, Kopfzerbrechen bereiten. Mit jeder orthodoxen Jüdin, mit jedem gläubigen Juden, die gegen die Regierung auf die Straße gehen, bröckelt das spalterische Narrativ der Regierung.
Ein anderes Ergebnis ihrer Politik dürfte der Regierung noch weniger gefallen. Die Israelis haben in den vergangenen Jahrzehnten gelernt, die Besatzung zu verdrängen: Aus den Augen, aus dem Sinn. Im Zuge der Demokratiebewegung sind jedoch jene Stimmen lauter geworden, die sagen, es habe keinen Sinn, über Demokratie zu sprechen, wenn über die Besatzung geschwiegen wird. Die Parole „Es gibt keine Demokratie mit Besatzung“ war anfangs nur aus dem linken „Block gegen die Besatzung“ zu hören. Inzwischen wird auch auf der großen Protestbühne in Tel Aviv und im Fernsehen über die Besatzung und ihre Folgen für die Demokratie gesprochen.
Am Verkehrskreisel in Efrat ist es ruhig geworden. Die meisten sind auf den Weg nach Hause. Die Kinder müssen ins Bett, morgen ist ein Arbeitstag. Avidan Freedman hat Flaggen und Plakate eingesammelt und die Tonanlage wieder abgebaut. Von Tsuf Peles, der auch hier sein Protest-Shirt aus Tel Aviv trägt, will er noch wissen, wo man am besten Shirts bedrucken kann. Bevor Avidan aufbricht, fasst er den Tenor der Versammlung zusammen. Historisch habe sich der religiöse Zionismus als Brücke zwischen religiösen und nationalen Ideen, zwischen dem Universellen und dem Partikularen begriffen, erklärt er.
„Ich sehe es so: Israel kann nicht als jüdischer Staat überleben ohne eine starke Verbindung zum Judentum. Israel kann aber auch nicht als jüdischer Staat überleben, ohne sich zur Demokratie und zu den Menschenrechten zu bekennen.“ Das motiviere ihn und die anderen, hier, in einer Siedlung auf der Westbank, zu demonstrieren. Sie seien religiöse Juden, die gegen den Strom schwimmen. „Die Leute, die heute hier waren, definieren sich als religiös und rechts,“ sagt er. „Aber aus diesen Werten ergibt sich die Einstellung, dass die Regierung nicht nur dem Zusammenhalt der israelischen Gesellschaft sehr schweren Schaden zufügt, sondern auch dem Judentum selbst.“
Dann fährt auch Avidan Freedman nach Hause. Am nächsten Samstagabend wird er wohl wieder hier sein.
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