Historiker über ukrainische Rechte: „Nicht der Kern der Bewegung“
An vielen Stellen wird über rechtsradikale Kräfte in Kiew berichtet. Diese Darstellung greife allerdings zu kurz, meint der Historiker Kai Struve.
Taz.de: Der von Ihnen und anderen Wissenschaftlern unterzeichnete Aufruf auf der Website der Heinrich-Böll-Stiftung http://www.boell.de/de/2014/02/20/euromaidan-freiheitliche-massenbewegung-zivilen-ungehorsamsruft die Medien dazu auf, sich nicht auf die Berichterstattung über rechtsextreme Nationalisten zu beschränken. Warum?
Kai Struve: Der Aufruf ist nicht ganz neu sondern von Anfang Februar, er ist nur nach Veröffentlichungen an anderen Orten jetzt auf der Website der Böll-Stiftung erschienen. Hintergrund war, dass viele Berichte über die Protestbewegung auf dem Maidan sehr stark die radikalen Nationalisten und Rechtsextremen in den Vordergrund gestellt haben. Das trifft allerdings in unserer Wahrnehmung nicht den Kern der Bewegung.
Es handelt sich viel mehr um einen Bürgeraufstand gegen eine korrupte Regierung, die weiterhin mit allen Mitteln versucht, sich an der Macht zu halten, ohne auf die Interessen des Landes einzugehen. Die Betonung der Rolle rechtsradikaler terroristischer Elemente auf dem Maidan erfolgte allerdings gerade in den letzten Tagen auch explizit von russischer Seite, offenbar um die exzessive Gewalt gegen die Protestierenden zu rechtfertigen. Einer solchen Fehlinterpretation der Bewegung zu widersprechen war mein zentrales Anliegen.
Aber die Rechtsextremen spielen doch schon eine Rolle bei den Protesten, oder?
Natürlich spielen sie eine Rolle, man sieht sie ja auch auf den Bildern vom Maidan. Sie sind ein sehr wichtiger Teil der militanten Kräfte und sind auch in den letzten Wochen noch stärker geworden. Durch die Gewalt von Seiten der Regierung sind die radikalen Elemente des Protests und die Gewaltbereitschaft generell gestärkt worden. Das ist jedoch vor allem eine Reaktion auf das Verhalten der Regierung und ihre Methoden zur Bekämpfung des Protests in den letzten Wochen und Monaten.
Wie setzt sich die Protestbewegung in Kiew aus Ihrer Sicht zusammen?
Jahrgang 1966, ist Historiker und Privatdozent an der Universität Halle. Zu seinen Forschungsgebieten gehören der ukrainische radikale Nationalismus und der Holocaust.
Die Mehrheit der Menschen auf dem Maidan kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Natürlich sind viele Leute aus der Westukraine dabei, aber auch aus Kiew und anderen Teilen der Ukraine. Es ist keinesfalls nur der rechte Rand, der sich dort versammelt hat. Da stehen Menschen vom weit rechten Spektrum bis hin zu Anarchisten. Natürlich sollte man die Rechten nicht unterschätzen. Aber man darf auch nicht in die Falle laufen, die Proteste in der Ukraine mit den radikalen ukrainischen Nationalisten gleichzusetzen. Im Kern handelt es sich um einen Aufstand gegen den Missbrauch der Macht durch die gegenwärtige Regierung und für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Worin sehen Sie die Ursachen der Radikalisierung der Proteste?
Die Menschen in Kiew waren nach Monaten auf dem Maidan frustriert. Die Regierung versuchte, durch neue Gesetze die demokratische Freiheit weiter einzuschränken. Gleichzeitig kam es zu Entführungen führender Oppositioneller. Das hat neue Protestwellen mit einem deutlich höheren Aggresionspotential hervorgerufen. Natürlich gibt es da Gruppen, deren Ziele wir nicht teilen. Es wäre aber falsch, die ganze Bewegung anhand dieses Kriteriums zu bewerten. Das ist aber genau das, was von Seiten Janukowitschs und Russlands versucht wird.
Welches Interesse verfolgen die Regierung und Russland damit?
Sie versuchen, den Protest auf dem Maidan als terroristisch zu qualifizieren. Janukowitsch und Russland versuchen, das Bild einer rechtsradikalen und radikal nationalistischen Opposition zu verbreiten. In der Ukraine selbst wird dieses Bild in den letzten Tagen auch dazu herangezogen, um den Waffeneinsatz gegen die Protestierenden als Terrorismusbekämpfung zu rechtfertigen. Zudem sehe ich darin den Versuch, mit dem Argument des Terrorismus auch die Unterstützung aus dem Westen zu vermindern.
In dem Aufruf steht, Journalisten, die sich mit der komplexen Lage in der Ukraine nicht sehr gut auskennen, sollten von Kommentaren eher absehen.
Ich persönlich würde nicht sagen, dass Journalisten die Finger von dem Thema lassen sollten, im Gegenteil. Sie sollten sich aber gut informieren. Ich bin der Meinung, wenn man die Geschehnisse auf rechtsradikale Elemente reduziert, dann hat man sie nicht richtig verstanden. Das war mein persönliches Motiv für die Unterzeichnung des Aufrufs.
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