wir lassen lesen: Ein Kompendium erweckt Stadien zum Leben
Die Pilgerstätten des Fußballs
Neulich, im Deutschen Sportfernsehen: Beim Spiel Hannover 96 gegen den FC St. Pauli greift der gähnende Kommentar mal wieder tief in die Klischee-Kiste; im luftigen Niedersachsen-Stadion, flötet die Stimme ins Mikrofon, würde ja nie recht Stimmung aufkommen – am Kiez dagegen, im dortigen Wilhelm-Koch-Stadion, da brenne immer die Luft, programmierte „Paadie“ sozusagen. Abgesehen davon, dass auch die weiteren Sätze nicht gerade getrübt waren von Originalität – das Stadion am Heiligengeistfeld heißt längst „Stadion am Millerntor“.
Das hängt zusammen mit der braunen Vergangenheit des Namensgebers. Historisch interessierte Vereinsmitglieder hatten herausgefunden, dass jener Wilhelm Koch, Präsident des Klubs von 1931 bis 1945 und 1947 bis 1969, im „Dritten Reich“ die damit „arisierte“ Firma seines nach Schweden emigrierten jüdischen Arbeitgebers übernommen hatte. Die sodann von vielen St.-Pauli-Fans stürmisch geforderte Namensänderung wurde schließlich zu Saisonbeginn 1999/2000 umgesetzt.
Glaubt man Werner Skrentny, dann ist dieser Akt der Vergangenheitsbewältigung „ein einzigartiger Vorgang in der deutschen Stadiongeschichte“. Er muss es wissen, denn er hat jetzt eine Enzyklopädie der deutschen Fußballstadien vorgelegt. Angesichts der 342 behandelten „Orte der Erinnerung“, wie Skrentny die Stadien treffend charakterisiert, ein wahrhaft wahnwitziges Vorhaben, ein Recherche-Monstrum, ein schier unüberwindbares Ungetüm. Auswahlkriterium: „Berücksichtigt sind alle Erstligastadien der BRD und der Ex-DDR seit Entstehen der Oberligen nach 1945 sowie alle bundesdeutschen Zweitliga-Arenen ab 1963.“ Dem 20-köpfigen Autorenteam, nehmen wir das Ergebnis vorweg, ist mit diesem Kompendium ein Meisterwerk gelungen.
Die Beschreibungen rund um die Pilgerstätten des Fußballs beschränken sich nicht auf das Erwartete, auf das Pflichtprogramm. Denn neben den Fakten (Errichtung, Fassungsvermögen, Zuschauerrekorde etc.) versteht es das Buch, dem Leser den politischen, sozialen und kulturellen Hintergrund der „Kampfbahnen“, um den damaligen Terminus zu gebrauchen, näher zu bringen. Beispiel Köln-Müngersdorf: Vom damaligen Oberbürgermeister Konrad Adenauer initiiert (kein ausgemachter Sportfreund zwar, aber ein Pragmatiker: mit dem Bau konnten viele Arbeitslose von der Straße geschafft werden), diente es in der Zeit des beginnenden Zuschauersports als Prototyp der nun wie Pilze aus dem Boden schießenden Arenen der Weimarer Republik. Die Domstadt war in der Folge die Hochburg des deutschen Sports; das Stadion fungierte 1926 als Gastgeber der Deutschen Kampfspiele (eine Art deutsches Olympia), zwei Jahre später kamen massenhaft Turner, um ihr 14. Deutsches Turnfest zu begehen.
Beispiel Poststadion Berlin, in grauer Vorzeit Heimat der Tennis Borussia, Skrentny zufolge mittlerweile „Deutschlands größte Stadionruine“. Darin saß Hitler während der Nazi-Spiele 1936, als die hoch favorisierten Deutschen mit 0:2 Toren gegen Norwegen unterlagen (eine längst widerlegte Legende allerdings, dass der mehr als unsportliche „Führer“ dort sein einziges Fußballspiel erlebte). Heute fristet dieser denkmalgeschützte Bau ein wortwörtlich zu nehmendes Mauerblümchendasein, er verrottet nämlich und ist nach Meinung des Autors „ein trauriges Symbol verfehlter Landespolitik“.
Sicher, das sind vielleicht bekannte Objekte; aber auch alle anderen 340 Stadien werden liebevoll historisiert. Vom Aachener „Tivoli“ über den Itzehoer „Lehmwohld“ bis zum Zwickauer „Westsachsenstadion“ erstreckt sich die gleichermaßen kurzweilige wie lehrreiche Galerie. Schon das Vorwort macht Appetit, denn es löst die kulturgeschichtlich sehr unterschiedlichen Voraussetzungen für die Phasen der Stadionarchitektur auf: „Da ist der klassische Vereinsplatz der Anfangsjahre, da sind die Volksparks der 20er-Jahre, die wuchtig-trutzigen Sportstätten der NS-Zeit, die Trümmerstadien als Symbol des Wiederaufbauwillens nach Ende des 2. Weltkrieges, schließlich die erste Stadion-Revolution, deren Auslöser die WM 1974 war, und nun das Wettrennen von Städten und Klubs hinsichtlich multifunktionaler High-Tech-Arenen.“ Oder anders gesagt: Es geht in diesem Buch nicht allein um nackte Namensänderungen. Der Tipp also (nicht nur für unseren Reporter-Freund vom DSF): unbedingt kaufen. ERIK EGGERS
Werner Skrentny (Hrsg.): „Das große Buch der deutschen Fußball-Stadien“, Werkstatt-Verlag, Göttingen 2001, 400 Seiten, 78 DM
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