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»...wie vor der Blockade«

■ Den letzten freien Sonnabend vor der kommenden Visumplicht nutzten Tausende von polnischen Einkaufstouristen zu einem Trip in den Streß

West-Berlin. Ab Donnerstag wird die Einkaufsstraße in Charlottenburg wieder Kantstraße und nicht mehr, wie einige Monate von den Anwohnern genannt, »Warschauer Allee« heißen. Vorgestern zeigte sich die Straße ihres Namens noch einmal würdig. Tausende von polnischen Einkaufstouristen nutzten diesen letzten freien Samstag vor Errichtung der neuen gesamtdeutschen Visahürden für den vielleicht letzten Trip in die Konsumtempel. Die Sonderangebote waren oft in weiter Ferne. Vor Aldi an der Kaiser-Friedrich-Straße stauten sich die Menschen in Zweierreihen über 300 Meter lang. Die ersten kamen schon in der Nacht. Durchschnittliche Wartezeit für zehn Lagen Bier, Instant- Tee, Coca-Cola, Sonnenblumenöl und Babywindeln: mindestens fünf Stunden. Die Gewerbeämter drückten allerdings beide Augen zu, denn noch Stunden nach offiziellem Ladenschluß wurde ausverkauft. Am späten Nachmittag waren die Läden leer, die Menschen erschöpft und pleite.

Ihren letzten großen Reibach machten auch die 28 Im- und Exportläden, die sogenannten »offenen Zollager« auf der »Warschauer Allee«. Dort verkaufen meistens Russen oder Afrikaner den Polen zollfrei die elektronischen HiFi-Wunderwerke — durch Einsparung von Zoll und Mehrwertsteuer für Ausländer bis zu 50 Prozent billiger. Diese Läden haben in der Vergangenheit den Anwohnern viel Ärger bereitet, denn aus dem Kiez herausgedrängt wurden Speziallädchen und Straßencafés. Die Mieten wurden unbezahlbar und genau die gleichen Hausbesitzer, die sich gegen die »polnische Invasion« in Bürgerkomitees organisierten, vermieteten 30 Quadratmeter für 4.000 DM Monatsmiete.

So gedrängelt wie in der Kantstraße wurde am Sonnabend in fast allen Bezirken. »Das ist ja wie vor der Blockade«, stöhnte eine Uralt-Berlinerin. Und in der Tat, die Kombination von 100.000 Marathon-Touristen, 200.000 Wochenend-Wiedervereinigungsfeierern und Tausenden — bald visageschädigten — Osteuropäern fegten die Einkaufsregale leer. Die großen Einkaufsketten, ob C&A, Penny oder Aldi feierten Weihnachten, Sommer- und Winterschlußverkauf auf einmal. Um so absurder, daß für das Wochenendgeklingele Hunderten von Studenten über Zeitarbeitsbüros Detektivjobs angeboten wurden und die T-Shirts und Obststände auf den Straßen bewacht wurden wie die Kronjuwelen im Tower. Viel freundlicher wäre die Abschiedsgeste gewesen, hätte man helfende deutsche Hände beim Tragen gesichtet. Denn die unzähligen Touristenbusse, sonst aufgereiht auf der Straße des 17. Juni, waren in alle Nebenstraßen, von Tiergarten- Süd bis Moabit-Nord, weiträumig verteilt. »Parken verboten« hieß es auf der Prachtstraße, denn der Marathonlauf in die deutsche Einheit hat begonnen. Anita Kugler

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