was fehlt ...: ... das Über-Ich
Schriftentwerfer Harald Geisler hat aus Sigmund Freuds Handschrift eine digitale Schriftart geschaffen. Das bringt viele Möglichkeiten. Aber auch Fragen.
Schriftentwerfer Harald Geisler scheint ein romantischer Typ zu sein. Er will die gute alte Handschrift ins digitale Leben holen. Aber nicht irgendeine: Nach diversen schnörkeligen Liebesbriefschriften hat er sich die schwungvolle Handschrift von Sigmund Freud vorgenommen und einen Font aus ihr entworfen. Wir können jetzt also der Steuererklärung, dem Liebesbrief oder dem Brief an den Therapeuten eine ganz neue Note geben. Wäre sicher interessant zu analysieren (vor allem Freud'sche Verschreiber in Freud'scher Handschrift lassen auf ganz neue Therapieergebnisse hoffen).
Geisler hat sich die Mühe gemacht, jeden Buchstaben in verschiedenen Variationen zu entwickeln – eben genau so, wie es beim Schreiben mit dem Stift passiert. Und er ist nach Wien gezogen, um Freud möglichst nah zu sein. Ob er dabei darüber nachgedacht hat, welche Folgen seine Schrift haben könnte? Oder gar, woher das kommt, dass er sich auf diese Weise der Psychoanalyse nähert? Hat er Freuds Handschrift mit seiner Libido besetzt? Spricht da sein Über-Ich aus ihm, das ihm verbieten will, zu akzeptieren, dass man Freud nicht in ein Schriftschema pressen kann, dass es keine einfachen Erklärungen gibt? Wir werden es nie erfahren.
Finanziert hat er sein Projekt jedenfalls per Crowdfunding – fast 26.000 Dollar haben Fans seines Projekts ihm dafür gegeben und damit 1.700 Prozent der Summe, die er ursprünglich veranschlagt hat. Was soll uns das nun wieder sagen? Haben die Unterstützer alle eine unbefriedigte Sehnsucht nach Freud? Wir wollen es nie erfahren. (taz)
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