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vorlaufNach Worten tasten

„Taubblind“ (So., 21.15 Uhr, 3sat – Mi. 22.15 Uhr, WDR)

Für Elsbeth Osterburg ist die Welt immer dunkel und still. Wer bei ihr klingelt, schaltet einen Ventilator ein, dessen Wind der Achtzigjährigen Besuch ankündigt. Kommt der Neffe, die Pastorin oder ein Pfleger? Elsbeth Osterburg weiß es erst, wenn sie den Gast spürt, er ihr Symbole und Worte in die Handfläche schreibt.

Grimme-Preisträger Wolfram Seeger hat vorigen Sommer zwei Monate den Alltag von Menschen begleitet, die weder hören noch sehen können: zwei alte und zwei junge Taubblinde, ihre Angehörigen und Pfleger.

Sein Film löst nicht dieses schwammige, schnell wieder verflogene Mitleid aus, das andere Dokumentationen über Körperbehinderte erzeugen. Seegers Bilder erzeugen Respekt, weil er zeigt, wie sie die ganz alltäglichen Dinge meistern, beim Abendessen das Brot ertasten, in ihrer Werkstatt Stühle reparieren. Und wie man als Taubblinder seine Armbanduhr stellt – so wie Linda Weiß. Sie steht vor einer großen Standuhr und hat ihre Handflächen auf die Glasscheiben gelegt. Wenn es zur vollen Stunde schlägt, zählt die alte Frau die Vibrationen an den Scheiben, die der tiefe Gong auslöst. Danach dreht sie auf ihrer speziellen Armbanduhr an den Zeigern, die sie ertasten kann.

Die Alten in Seegers Film plaudern gern. Weil sie nie sprechen lernen konnten, verständigen sie sich nur durch Berührungen – im Film werden aus ihren Worten Untertitel, kein Sprecher kommentiert die Szenen. Seeger lässt Bilder, Geräusche und Unterhaltungen für sich wirken – 90 Minuten lang wird das kein bisschen langweilig.

Die Porträtierten konnten nicht sehen, wann Seeger seine Kamera auf sie richtet. Deshalb ist der Film so intim, zeigt die Menschen in überschwenglicher Freude und tiefster Angst. Und wenn sie doch mitbekommen, dass die Kamera läuft, scheint es sie nicht zu stören. „Ich glaube, die filmen uns noch“, sagt Elsbeth Osterburg, schmunzelt und fängt eine Unterhaltung mit ihrer Freundin an. Als sie erblindete, war sie dreizehn Jahre alt, erzählt ihr Neffe. Wenn die Tante heute einkaufen geht, legt sie immer noch Wert auf Farben. Weiße Servietten will sie haben und grüne.RALF GEISSLER

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