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village voiceZitatpop-Exzentrik: „The John Peel Session“ von Rechenzentrum

Neue Weltordnung

Ein wenig spektakulärer hätte man sich die Entstehung der John-Peel-Session von den Berliner Experimentalelektronikern Rechenzentrum ja schon vorgestellt. Schließlich geht es um John Peel – den legendären britischen Radio-DJ, der seit vielen Jahren jedem Musik-Nerd, der etwas auf sich hält, die Linie vorgibt: Interessier dich für alles, oder du bist tot! Aber es kamen keine Tontechniker der BBC nach Berlin, um eine Rechenzentrum-Session aufzunehmen, es klopfte niemand an die Studiotür und sagte: „Hello, this is John Peel from London.“

Es kam eine ganz profane Nachricht, dass Peel Interesse an einer Session habe, Rechenzentrum setzten sich zusammen, sichteten ihr Material, fuhren aufs Land, nahmen noch mehr auf – und das Ergebnis ist nun die „John Peel Session“ von Rechenzentrum. Aber im Jahre 2001 eine Peel-Session aufzunehmen ist ohnehin vor allem eins: Zitatpop-Exzentrik. Denn viel mehr als ein Erkennungsmerkmal ist der Sticker „John Peel“ ja nicht mehr. Er ist ein Zeichen, das für ein bestimmte Attitüde steht, für die Verbundenheit mit bestimmten Indie-Werten, und das für alle, die damit etwas verbinden, eine oder zwei Erinnerungen an Stunden vor dem Radio zurückruft. Schließlich hat sich die Welt verändert, London ist nicht mehr das Zentrum der Welt, die Musik kommt ohne Zentralinstanzen aus.

Wenn die Popmusik noch einmal die Geschichte der Menschheit im Schnelldurchlauf nachspielt, dann ist John Peel der letzte Universalgelehrte. Jetzt gibt es nur noch Spezialisten. Und tatsächlich: Überall, wo es Strom und Telefon gibt, sei es in den finnischen Wäldern, in der andalusischen Wüste oder in Hongkong, sitzen Rechenzentrum-Experten, die sich im Gesamtwerk der Gruppe besser auskennen als die Macher der Musik selbst. Ab und zu treffen sich die Bewohner dieser vernetzten Welt dann allerdings doch, etwa zur Love Parade, zur Popkomm oder zum Sonar Festival in Barcelona. Bei Letzterem trafen Rechenzentrum dann auch auf John Peel. Wobei es eine recht kurze, wenn auch intensive Begegnung gewesen zu sein scheint.

Nach seinem DJ-Set, das er mit einem unglaublich stumpfen Ibiza-House-Knaller beendete, stand Peel hinter einem Tisch, und Dutzende von Musikern und Produzenten wollten ihm über seine Halbglatze streicheln und ihm ihre DATs und Tapes und Schallplatten geben. Die Platten von Rechenzentrum gab er allerdings wieder zurück und deutete auf seinen Plattenkoffer: Er hatte sie schon. Dann trennten sich die Wege.

TOBIAS RAPP

Rechenzentrum: „The John Peel Session“ (kitty-yo/Efa)

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