ulrike herrmann über Non-Profit: „Das war ich ihm schuldig“
Eine Mutter sehnt sich nach einem Baby – und treibt trotzdem ab. Weil sie dem Kind nicht schaden will
Ihr Schweigen dehnt sich am Telefon. Es quillt aus dem Hörer, füllt meine Küche, die Wohnung.
Sie schweigt. Dabei hatte ich nur gefragt, wie es dem Kind geht. „Es gibt kein Kind mehr“, hatte sie geantwortet.
Jetzt schweige auch ich. Was soll ich nur sagen? Alles, alles würde so sinnlos klingen mitten in diesem Schmerz. Es kann sie nicht trösten, dass Fehlgeburten so häufig sind, dass etwa 15 Prozent aller Embryonen abgestoßen werden, weil sie nicht lebensfähig sind oder sich mit der Gebärmutter nicht verstehen.
Sie schweigt noch immer. Doch ihr Schweigen scheint zu mir zu sprechen. Als wollte sie mich fragen, mir die Antwort überlassen, wie viel ich von ihr wissen will. Es ist die Erlaubnis, das Thema zu wechseln.
Aber ich will mit ihr befreundet bleiben, frage am Ende doch: „Warum?“
„Ich habe es abgetrieben.“
Was?!, hätte ich fast in ihre Stille hinein geschrien.
Ich versuche, sie mir am anderen Ende des Telefons vorzustellen. Eine Frau, Ende 30, bemerkenswert schön und von allen Männern bemerkt. Nie allein, stets umschwärmt – und trotzdem Single. Das ist zwar nicht offensichtlich, meist lebt sie mit Partnern zusammen, aber sie selbst hat immer gewusst, dass ihre Beziehungen nicht andauern, obwohl sie manchmal Jahre dauerten. Diese beidseitig befristeten Arrangements störten sie nicht, sie wundert sich nur. Niemand versteht, und sie eben auch nicht, wie es sein kann, dass eine so attraktive Frau – „und trotzdem nett!“ (wir Freundinnen) – keinen Mann fürs Leben findet. Aber damit hat sie sich abgefunden. Was sie vermisst, ist ihr Kind. Sie hat sich immer als Mutter entworfen.
Nach der letzten Trennung ist sie dann allein nach Mallorca geflogen, und um nicht allein zu bleiben, hat sie eine Gruppenreise gebucht. Sie mochte den Reiseleiter sofort, seine Locken, seine athletische Neugier, und schätzte es, dass er nicht mehr wollte als sie: zwei Wochen sonnige Romantik, bis zur nächsten Gruppe. Zu Hause stellte sie fest, dass sie schwanger war.
Sie freute sich, es ging ihr gut; ihr Chef hatte nichts dagegen, dass sie in die Teilzeit wechseln wollte. Als wir das letzte Mal telefonierten, hatte sie gerade dem Reiseleiter geschrieben, dass er Vater wird. „Das hätte ich nicht gemacht“, entfuhr es mir da, „du willst doch gar nichts von ihm!“ – „Nein“, war ihre Antwort, „aber wenn das Kind erwachsen ist, soll es die Möglichkeit haben, ihn kennen zu lernen.“ Ich kam mir schäbig vor, beneidete das Kind um diese Mutter, die so großzügig sein kann.
Und nun gibt es dieses Kind nicht mehr, das in der Fantasie seiner Mutter schon achtzehn Jahre alt gewesen war. Es hat nur knapp drei Monate in ihrem Bauch gelebt.
„Warum?“ Ich weiß nicht, welche Antwort ich erwartet habe – jedenfalls nicht ihre.
„Ich habe es mir nicht zugetraut.“ Schweigen. „Ich habe immer an Monika gedacht.“
Monika. Sie ist die einzige allein erziehende Mutter unter uns. Das heißt, nicht mehr unter uns. Denn als sie das Kind bekam, der Vater hatte sich im siebten Schwangerschaftsmonat getrennt, da war sie nur noch zu Hause. Anfangs hatten wir sie noch besucht, aber ziemlich bald hatte es uns bedrückt, dass sie nur noch ihr Baby wahrnehmen konnte. Ja, selbst zum Baby wurde – „kukuku, du Kleine, kukuku“ –, wenn sie nicht überbesorgte Mama war. „Findet ihr nicht, dass es zieht?“ Nein, das fanden wir nicht. Ihr Wohnzimmer war definitiv überheizt, aber das wagten wir nicht zu sagen. Zuletzt hörten wir, dass sie mit ihrer inzwischen vierjährigen Tochter über die Taliban diskutiert, weil sie sonst keine Gesprächspartner mehr hat.
„Aber du wärst nie wie Monika geworden!“, schreie ich fast ins Telefon. Und glaube es, bis sie mir von ihrer Umfrage erzählt. Sie hat alle Freunde befragt, die Kinder haben. Allein erziehende mit Großmutter am Ort und ohne, Paare mit familiärer Unterstützung und ohne. „Und weißt du, selbst den Paaren wurden ihre Kinder zu viel, selbst dort warteten die Mütter ungeduldig darauf, dass ihr Mann endlich nach Hause kommt, damit sie das Baby für ein paar Stunden los sind.“ Schweigen. „Aber darüber redet ja niemand in dieser Gesellschaft.“ Wenn ihre Mutter nebenan gewohnt hätte – „vielleicht wäre es mit dem Kind allein gegangen“. Aber ohne Hilfe, da war sie sich sicher, musste sie abtreiben. „Ich wollte nicht hysterisch werden. Das hätte Vincent geschadet.“
Vincent?
„Ich wollte das Geschlecht wissen, wollte alles wissen, bevor ich das Kind töte.“
Warum hast du dich nicht geschont?, hätte ich am liebsten gefragt. Warum konntest du dir nicht einbilden, dass es nur ein anonymer Zellhaufen war?
Sie kennt meine Frage auch so: „Das war ich ihm schuldig.“
Und legt auf. Ihr Schweigen füllt wieder meine Wohnung.
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