türkei: hungerstreiks: Europa muss handeln
„Todesschweigen“ nennt die Zeitung Radikal aus Istanbul die Haltung der türkischen Regierung gegenüber den hungerstreikenden Häftlingen – in Abwandlung des Begriffs „Todesfasten“, den die Gefangenen selbst für ihre selbstmörderische Aktion benutzen. Tatsächlich ist die Ignoranz, die Justizminister Hikmet Sami Türk, aber auch Ministerpräsident Bülent Ecevit gegenüber den verhungernden Häftlingen und ihren Angehörigen an den Tag legen, an Zynismus kaum noch zu überbieten.
Kommentarvon JÜRGEN GOTTSCHLICH
Hinter diesem Zynismus steht dieselbe Haltung, aus der heraus die Verantwortlichen in Ankara bereits den Sturm auf die türkischen Gefängnisse im Dezember „Operation zur Rettung des Lebens“ nannten. Damals wurden mehr als 20 Gefangene getötet. Heute lässt die Regierung Ecevit die Hungerstreikenden nun schlicht und einfach verrecken, ohne sich dazu auch nur zu äußern. Was immer man von den Forderungen der Gefangenen halten mag, und wie umstritten die Motive für ihren Hungerstreik auch immer sein mögen: Keine Regierung der zivilisierten Welt darf zulassen, dass jeden Tag in ihren Gefängnissen Menschen sterben, ohne dass sie auch nur den geringsten Versuch unternimmt, das zu verhindern.
Doch der größte Teil der türkischen Bevölkerung ist derzeit dank der verheerenden Wirtschaftskrise mit eigenen Sorgen schwer belastet. Und diejenigen, die sich für die Belange der Hungerstreikenden öffentlich einsetzen könnten, werden brutal verfolgt. Als letzte Möglichkeit, das Sterben weiterer junger Menschen aufzuhalten, bleibt also nur noch der Versuch, von außen Druck auf die türkische Regierung auszuüben.
Bereits im Dezember hatten Europaparlament und Europarat die Regierung in Ankara aufgefordert, eine internationale Untersuchung über die Bedingungen in den neuen Hochsicherheitsgefängnissen der Türkei zuzulassen. Bislang ohne Erfolg. Dabei könnte vermutlich schon ein geringes Zugeständnis die Gefangenen dazu bewegen, ihren Hungerstreik zumindest auszusetzen. Nach Aussagen der Ärzte schweben ein Dutzend von ihnen in unmittelbarer Lebensgefahr. Deshalb darf es jetzt keine Zurückhaltung mehr geben. Wenn Wirtschafts- und Finanzminister Kemal Dervis in den nächsten Tagen wegen neuer Milliardenkredite im Ausland vorstellig wird, sollte man ihm sagen, dass seine Regierung erst einmal ein paar elementare Regeln des humanen Umgangs berücksichtigen soll.
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