taz-adventskalender „24 stunden“ (9): 9 Uhr im Eislaufstadion
Der Morgen ist im Horst-Dohm-Stadion in Wilmersdorf eine besondere Zeit: Jetzt ist ungestörtes Eislaufen möglich. Es ist ein Ritual für Eingeweihte.
Stressig und chillig, hässlich und schön, herzerwärmend und abstoßend: Berlin hat viele Seiten, rund um die Uhr. In diesem Advent hangeln wir uns durch 24 Stunden Hauptstadtleben und verstecken jeden Tag aufs Neue 60 Minuten Berlin hinter unserem taz-berlin-Kalendertürchen. Heute: ab 9 Uhr im Eislaufstadion.
So, noch die Cunostraße entlang durch Schmargendorf geradelt, in die Fritz-Wildung-Straße abgebogen, noch knapp 500 Meter, bis der Eingang in Sicht kommt – und aufatmen: Es ist kurz vor 9 und keine Schulklasse zu sehen. Noch nicht jedenfalls. Also wird es gleich am Einlass schnell gehen mit dem Abknipsen der Sechserkarte. Nur noch die Treppe runter, Schuhe wechseln – und dann raus auf das Eis des Horst-Dohm-Stadions. Denn dieses Eis sieht zu diesem Zeitpunkt noch so aus wie sonst nur bei Sportübertragungen im Fernsehen: glatt, ohne Spuren, die Oberfläche sogar noch feucht schimmernd, unberührt.
Das Stadion in Wilmersdorf ist benannt nach einem langjährigen Bezirksbürgermeister von Wilmersdorf. Horst Dohm (CDU) hatte dieses Amt von 1981 bis 1996 inne. Seit 2000 trägt das Eisstadion seinen Namen. Es war im November 1979 eröffnet worden und liegt fünf Gehminuten von der S-Bahn-Station Hohenzollerndamm entfernt.
Das Eisstadion ist in Berlin einmalig. Denn es hat eine 400-Meter-Bahn, nicht bloß eine rechteckige Eisfläche wie Berlins andere Eislauforte. Die gibt es hier in der Mitte des Ovals auch, aber um die Uhrzeit ist sie für Vereine reserviert. Eine 400-Meter-Bahn bietet zwar auch das Sportforum Hohenschönhausen, aber nicht unter freiem Himmel.
Treffen mit alten Bekannten
Dass um 9 Uhr noch keine Schulklasse (oder sogar mehrere) am Eingang zu sehen ist, bedeutet: Mindestens 20 Minuten lang ist bei wenigen Läufern volles Tempo auf der 400-Meter-Bahn möglich, ohne Ausweich- und Bremsmanöver. Denn Zahlen, Umziehen und – bei den meisten – Schuhe-Ausleihen dauert stets. Es ist ein besonderes Zeitfenster, und das wissen seit Jahren einige immergleiche Gesichter zu schätzen und stehen schon kurz vor Einlassbeginn regelmäßig vor den Toren.
Zum Saisonstart im Spätherbst gibt es folglich ein Wiedersehen von Menschen, die sich seit März nicht gesehen haben. „Auch wieder da?“, ist der Klassiker zur Begrüßung, bevor es tiefer geht: „Was macht das Knie, da stand doch eine OP an, oder?“ „Und die Pilgerwanderung, auf die du gehen wolltest, hat geklappt?“ So oder so ähnlich laufen Gespräche ab vor dem Einlass oder in dem Raum, in dem alle sitzen und ihre normalen Schuhe gegen die Schlittschuhe tauschen.
Auch draußen auf der Bahn gibt es viel Geplauder, gerade wenn noch Platz und das Nebeneinanderherfahren noch möglich ist. Und wenn plötzlich verspätet ein lieb gewonnener Eislaufbekannter erstmals wieder zu sehen ist, der schon lange weit über die Pensionsgrenze hinaus war, kann einen schon mal einen stiller Seufzer der Erleichterung durchzucken: Es gibt ihn also noch… Welch schöne vorweihnachtliche Bescherung.
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