taz-Sommerserie: „Sommer vorm Balkon“: Mariendorf am Bosporus
Um der Wohnungsnot zu begegnen, entstand in den 1930er Jahren in Mariendorf eine Siedlung. Warum aber tragen die Straßen türkische Namen?
Die Mariendorfer Siedlung mit den (teils altdeutschen) Namen türkischer Orte liegt in etwa in der Mitte des sich vom KadeWe bis nach Brandenburg erstreckenden und damit ziemlich langen und ziemlich schmalen Bezirks Tempelhof-Schöneberg. Genauer gesagt: rechts in der Mitte, auf dem Stadtplan gesehen. Im Osten grenzt sie an den Neuköllner Stadtteil Britz.
Es ist eine idyllische Ecke: In der „türkischen“ Siedlung ducken sich überwiegend dreigeschossige lang gestreckte Mietwohnungsblöcke unter hohe Bäume. Wiesen, Grünanlagen, Spielplätze und Spazierwege ziehen sich durch die gesamte Anlage, dazwischen stehen an den schmaleren Straßen kleine – zum Teil wirklich sehr kleine! – Einfamilienhäuschen. Die kleinsten erinnern mit dem ersten Obergeschoss unter einem Spitzdach an Hexenhäuschen aus alten Kinderbüchern. Menschen, denen man begegnet, grüßen freundlich auf der Straße oder über Gartenzäune hinweg.
Gebaut wurden die Häuser hier nicht für Displaced Persons (DP), das lässt sich leicht recherchieren. Sie stammen überwiegend aus den 1930er Jahren: Eine ältere Karte von Mariendorf von 1906, die sich im Internet finden lässt, zeigt die Gegend noch nahezu unbebaut und unerschlossen.
Große Wohnungsnot
Doch Wohnungen mussten dringend her: Die Archivarin des Bezirks (vielen Dank für die Hilfe, Frau Becker!) verweist auf einen Verwaltungsbericht des Bezirksamts Tempelhof von 1931: Die Wohnungsnot war groß (im Berichtszeitraum vom 1. April 1930 bis zum 31. März 1931 stieg die Zahl der Wohnungssuchenden in Tempelhof von 3.531 auf 4.812), Arbeitslosigkeit und Armut ebenso (die Wirtschaftskrise!). Viele Mietwohnungen waren überbelegt, alt und verwohnt, die Mieter*innen krank.
Der Bezirk reagierte mit heute ganz aktuell erscheinenden Maßnahmen: Er erzwang Mietverträge, wenn Eigentümer sich weigerten, etwa an Arbeitslose zu vermieten, oder stieg selbst als Mieter ein, wenn es anders nicht ging. Und er baute.
Berlin ist großartig – auch und gerade im Sommer. Als Berlin-Redaktion wissen wir das natürlich. Und weil Zuhausebleiben in Coronazeiten ohnehin angesagt ist, machen wir da doch gern mal mit. Denn abseits der ausgetrampelten Touristenpfade und abseits der Pfade, die man selbst im Alltag geht, gibt es in dieser Stadt immer noch genug zu entdecken, sodass selbst Ureinwohner beeindruckt sind. Hoffen wir zumindest.
In loser Folge begeben wir uns in den nächsten Wochen auf Erkundungen, Stippvisiten und Spaziergänge. Nachlesen, was bereits erschienen ist, kann man unter taz.de/Sommer-vorm-Balkon. (akl)
Es entstanden im damals noch ländlichen Mariendorf also die typischen Wohnblöcke der 1930er Jahre: nüchtern, schmucklos, praktisch, aber mit viel Grün dazwischen für Beete, Bänke, Wäscheleinen, Nachbarschaftsschwätzchen und Kinder. Die damals gepflanzten Bäume überragen heute die Häuser, von denen der Großteil längst modernisiert und manche um ein Geschoss aufgestockt wurden. Immer noch gehören die meisten Wohnblöcke hier landeseigenen Wohnungsgesellschaften oder alten Berliner Genossenschaften.
Mikve und Yeshiva
Für die Überlebenden der Nazi-Konzentrationslager wurden die Blöcke also nicht gebaut, aber tatsächlich lebten sie in den Nachkriegsjahren hier: wenn auch nicht in der „türkischen“ Siedlung, so doch direkt nebenan in ganz ähnlichen Blöcken auf der anderen Seite der Rixdorfer Straße, die hier durch Mariendorf führt. Das wurde übrigens, wie einst Rixdorf auch, im 13. Jahrhundert von Tempelrittern gegründet.
An das DP-Lager, eins von dreien im Nachkriegsberlin, erinnert eine Tafel an der Bushaltestelle Rixdorfer Ecke Eisenacher Straße. Das Camp ist gut dokumentiert: Es gab dort mehrere Schulen, darunter eine Grundschule mit 400 Schüler*innen, eine Jeschiwa, also eine religiöse Akademie, und eine Mikwe, ein rituelles Bad. Koscher gekocht wurde täglich für 900 Personen, heißt es auf der Webseite des United States Holocaust Memorial. Etwa 3.250 jüdische Holocaust-Überlebende haben von der Eröffnung im Juli 1946 bis Mitte 1948 in dem Camp gelebt, das von der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) betrieben wurde.
Schwarzweiß-Aufnahmen des Fotografen Helmuth William von Kujawa vom Juli 1948, damals veröffentlicht in der amtlichen Bezirkszeitung Die Tempelhofer und verwahrt im Bezirksarchiv, zeigen Bewohner*innen und Häuser hinter hohen Zäunen – die Überlebenden des Holocaust mussten bewacht werden, besser: beschützt.
Warum, erklärt vielleicht ein Artikel, der im Januar 1949, nach der Räumung des Camps, in einer Berliner Zeitung erschien. Er beschreibt die ehemaligen jüdischen Bewohner*innen als „arbeitsscheu“, „Schieber“ und „Schwarzmarkthändler“, die noch die Türschlösser und Klingeln der einst gut ausgestatteten Häuser („teppichbelegte Treppenflure“!) verkauft hätten. Weshalb diese nun in unbewohnbarem Zustand seien, und das angesichts der Wohnungsnot der Berliner*innen nach den Zerstörungen des Krieges! So schrieb die Zeitung, vier Jahre nach dem deutschen Massenmord an Jüdinnen und Juden und dem von Deutschland angezettelten Weltkrieg.
Die Amerikaner – Mariendorf lag im amerikanischen Sektor – ließen in der Siedlung dann übrigens 308 neue Wohnungen erbauen, ein Geschenk an die Berliner*innen. Ein Denkmal an der Ecke Goldenes Horn/Bosporusstraße erinnert daran.
Doch warum nun diese türkischen Straßennamen? Im Bezirksarchiv findet sich kein Hinweis. Das Internet liefert immerhin die Information, dass die Straßen und Gassen in diesem Teil Mariendorfs ihre Namen zwischen 1931 und 1936 erhielten – wohl zu der Zeit also, als die Wohnblocks dort geplant und erbaut wurden.
Sie erinnerten an die Waffenbrüderschaft zwischen Deutschland und der Türkei, schlägt die islamische Webseite Eslam.de vor. Die beiden Länder hatten im Ersten Weltkrieg ein Militärbündnis geschlossen. Quatsch, sagt meine türkeistämmige Freundin und sieht in den Straßennamen den gleichen imperialistischen Herrschaftsanspruch wie in denen des Afrikanischen Viertels im Wedding, die nach ehemaligen deutschen Kolonien benannt sind.
Tümpel aus der Eiszeit
Schlendert man bis zum südöstlichen Rand der kleinen Siedlung mit den türkischen Namen, steht man vor einer weiteren Überraschung: der Kleingartenkolonie „Am Türkenpfuhl“. Tatsächlich führt von hier ein schmaler, von Grün überwucherter Fußweg zu einem kleinen Tümpel, von einer Brücke überspannt – überquert man sie, ist man in Britz, Neukölln.
Der „Türkenpfuhl“ ist das aber noch nicht, der ist größer und ein paar Meter weiter westlich. Die einst zahlreichen Pfuhle an der Grenze von Mariendorf und Britz, der größte der „Karpfenpfuhl“ im nahen Britzer Garten, sind Hinterlassenschaften der letzten Eiszeit. Die wenigen heute noch erhaltenen sind Naturdenkmäler – und deshalb eingezäunt, wie auch der nahezu komplett überwucherte Türkenpfuhl, um den sich dennoch eine kleine Grünanlage spannt.
Für ein angrenzendes Neubauprojekt – ja, gebaut wird hier immer noch – wurden vor wenigen Jahren zahlreiche Gutachten über Flora und Fauna rund um den Türkenpfuhl erstellt: Mäusebussarde, Zaunkönige, Teichrallen und diverse Krötenarten leben demnach an dem kleinen Teich.
Warum der aber „Türkenpfuhl“ heißt, das weiß auch der Chef der gleichnamigen Laubenkolonie nicht. Er habe das selbst schon herauszufinden versucht und wundert sich kein bisschen, dass die taz anruft und danach fragt. Eine Kartensammlung im Internet (histomapberlin.de) verzeichnet den Namen „Türkenpfuhl“ ab 1969 – vorher hieß der Pfuhl demnach einfach nur „Pfuhl“.
Vielleicht kam der Name mit den türkischen Einwander*innen, die in den sechziger Jahren auch nach Berlin kamen – und sich sicher auch in Mariendorf am Bosporus niederließen.
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