taz-Serie Nachtzugkritik: Frische Trauben am Bahnsteig
Wer den Zug von Istanbul nach Bukarest nimmt, sollte viel Geduld und Zuversicht mitbringen. Dann aber kann die Fahrt zu einem tollen Erlebnis werden.
Dafür kommt man mit dieser Verbindung für umgerechnet 50 Euro inklusive Bettreservierung im Vierer-Liegewagenabteil nach Bukarest. Andere Optionen gibt es nicht: Der Zug teilt sich in Bulgarien und nur der eine Wagen mit Vierer-Liegeabteilen fährt weiter Richtung Rumänien.
Online ist diese Verbindung nicht leicht zu finden: Internationale Bahnseiten zeigen den Zug kaum an und sowohl die rumänische als auch die türkische Buchungsseite streiken regelmäßig. Vor Ort ist es dafür sehr viel einfacher: Obwohl nur ein Wagen täglich in den Sommermonaten diese Strecke fährt, scheint der Zug nie ausgebucht. Im September kann man auch am selben Tag noch einfach ein Ticket am Schalter an der Istanbuler Station Sirkeci im Zentrum bekommen.
Die Fahrtbedingungen schweißen zusammen
Der Zug fährt allerdings nicht in Sirkeci ab, sondern in Halkalı am westlichen Rand Istanbuls – Endstation der Marmaray-Bahn. Dort trifft man bereits die ersten Mitreisenden, die alle nach dem Zug suchen, denn an Anzeigetafeln mangelt es. Eigentlich aber nur durch eine Gepäckkontrolle und steht schon am Zug.
Dass nur ein Wagen nach Bukarest fährt, heißt auch: Nur eine Sitz- und eine Hocktoilette und ein Waschraum für alle. Der Waschraum ist allerdings mit Putzutensilien vollgestellt; nicht sonderlich luxuriös das ganze, aber es erfüllt den Zweck. Zur Sicherheit sollte man sich extra Klopapier und Desinfektionsmittel mitnehmen. Und den Klogang möglichst früh planen, denn sie riechen immer unangenehmer, je weiter die Zeit im Zug voranschreitet.
Die unschlagbar günstige Zugfahrt zieht nicht nur Backpacker an, sondern auch Passagiere aus Rumänien und Bulgarien, die die Strecke öfter zu fahren scheinen. Eine Familie aus drei Generationen verteilt sich auf mehrere Abteile und hat sogar an Töpfchen für die Kinder gedacht.
Die lange Fahrt und eine gemeinsame Nacht schweißen zusammen: Hier kommt man mit Mitreisenden viel eher ins Gespräch als im Großraumwagen eines ICE nach München. Da kann man die Zeit gut mit einem Austausch über Reiseerlebnisse verbringen und mit Glück findet man Leute, die sich auf der Strecke auskennen.
Die Vierbettabteile bieten gerade genug Platz für Koffer und Personen, wenn sie voll besetzt sind. Die Sitze könnten gemütlicher sein und sind nicht für Menschen mit langem Rücken gemacht. Dafür werden die Betten später auf die Sitze geklappt und haben sogar richtige Matratzen. Frische Bettwäsche bringt der Schaffner vorbei. Das Rollo vorm Fenster und der Vorhang vor der Tür schirmen die Lichter von draußen eher weniger ab, da ist einem mit einer Schlafmaske gut geholfen. Voll ist der Zug aber anscheinend nie und ein gnädiger Schaffner lässt einen auch mal trotz Reservierung in ein leeres Abteil wechseln. Türkischkenntnisse helfen dabei.
Erste Kontrolle in der Nacht
Eine ruhige Nacht hat man allerdings auch allein im Abteil nicht: Für 01:28 Uhr ist die erste Grenzkontrolle angesetzt. Wer jetzt denkt, bis dahin wach zu bleiben sei die beste Lösung, liegt aber falsch: Dies ist nur die erste Grenzkontrolle, und wir sind nicht im Schengenraum, das heißt: Bis 5:56 Uhr wird man immer wieder von Pass-, Zoll- und Ticketkontrollen geweckt. Die längste Zeit für Schlaf in der Nacht, liegt um die Zeit also schon hinter einem. Und mit Pünktlichkeit sollte hier sowieso niemand rechnen: 01:28 ist zwar laut Plan Ankunft am Grenzbahnhof, tatsächlich geht die Passkontrolle aber erst um 02:00 Uhr los.
Nachtzüge sind eine umweltfreundliche Alternative zu vielen Flügen. Die taz stellt deshalb in loser Folge Verbindungen mit Schlaf- oder Liegewagen vor. Denn viele Angebote sind kaum bekannt. Wir schreiben aber auch, was besser werden muss, damit sie für mehr Menschen attraktiver werden.
Alle vorherigen Folgen finden Sie auf www.taz.de/nachtzugkritik.
An der türkischen Grenze müssen alle Passagiere aussteigen und verschlafen ihre Pässe den Beamten im Büro vorzeigen. Wer schnell aussteigt, wird auch schnell kontrolliert und kann den Rest der Wartezeit wieder im Zug verbringen. Oder deckt sich am Grenzimbiss noch mit Sandwiches, Bier und Kaffee für die Fahrt ein. Ein Bordbistro oder Trinkwasser gibt es im Zug nämlich nicht.
Die bulgarischen Grenzbeamt*innen lassen die Passagiere dagegen nicht aussteigen, sondern sammeln um 04:24 Uhr morgens lieber ihre Pässe ein. Das heißt, man kann liegen bleiben, muss aber auch darauf warten, dass man den eigenen Pass wieder zurückbekommt. Bis 05:41 dauert das.
Verspätungen gehören einfach dazu
Die lange Zugfahrt heißt aber, dass die Weiterreisenden den Schlafmangel von der Nacht noch am Tag nachholen können. Erst am Vormittag kommt wirklich wieder Leben unter den Passagieren auf. Der Zug aber zuckelt weiter in sehr gemütlichem Tempo durch die Landschaft. Immer wieder bleibt er an einem verlassenen Bahnhof stehen, wird umrangiert oder von Bahnpersonal überprüft.
Im bulgarischen Gorna Orjachowiza dauert das am frühen Nachmittag eine ganze Weile. Gut, wer sich da auskennt oder etwas traut: Über die Gleise kann man einfach mal eben gegenüber zum Imbiss laufen und lernt dann auch noch den Bahnhofsvorsteher kennen, der ausländische Touristen gerne mit frischen Weintrauben aus seinem Garten versorgt. Eine Ansage, wie lange der Zug wo stehen bleibt gibt es genauso wenig wie Informationen zur Verspätung. So rollt der Zug plötzlich langsam davon, während ein paar Passagiere noch auf dem Bahnsteig stehen. Der Schaffner winkt lächelnd, der Bahnhofsvorsteher steht weiter gelassen neben den Passagieren am Bahnsteig. Denn schon kommt der Zug zurück – er hatte nur das Gleis gewechselt. Gemütlich führt der Bahnhofsvorsteher über die Gleise zurück zum Zug, bevor dieser tatsächlich weiterfährt.
Den Rest der Fahrt verstreicht mit Beobachtungen der Landschaft und Leute an den Bahnhöfen, mit dem Austausch von Reisegeschichten mit Mitreisenden, spielen, lesen und essen, aber mit wenig Zeit am Handy, weil der Zug keinen Strom zum Laden hat. Als der Zug nach fast 22 Stunden mit etwa anderthalb Stunden Verspätung um etwa 18:30 Uhr in die Gara de Nord von Bukarest einrollt, stehen die meisten Passagiere schon ungeduldig vor der Tür, während andere noch ihr Kartenspiel beenden. Am besten achtet man hier gar nicht auf Verspätungen – sie gehören sowieso dazu.
Ja, 20 Stunden Zugfahrt sind lang. Aber mit etwas Glück und den richtigen Mitreisenden vergeht die Zeit trotzdem fast wie im Fluge, nur besser: Man erlebt noch etwas von Land und Leuten und kann sich langsam wieder auf einen neuen Ort einstellen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen