piwik no script img

taz-Serie Fluchtpunkt Berlin (1)Angekommen, aber nicht am Ziel

Wie erleben die syrische Familie Mottaweh und Serbin Mitra Jovanović mit ihren Kindern Berlin? Ein erster Besuch.

Am Anfang heißt es für Flüchtlinge oft: anstehen, warten, auch im Regen. Foto: dpa

An der Wohnungstür von Familie Mottaweh steht kein Name, sondern eine Zahl. „23,99 Qua­dratmeter“ – exakt so groß ist das Zimmer des Flüchtlingswohnheims in der Marzahner Rhinstraße, in dem Mahmoud Mottaweh, seine Frau Salwa ­Kamel, ihre vier Kinder und das Ungeborene in Salwas Bauch seit beinahe fünf Monaten leben. Es gibt sechs Betten und sechs Stühle, einen zu kleinen Tisch, vier Metallspinde in Grau und blickdichte Gardinen in Braun, deren Aufhängung sich an einer Seite gelöst hat. Das ist für Familie Mottaweh die neue Heimat Berlin, der Sehnsuchtsort, zu dem die syrische Familie über zwei Jahre lang unterwegs war (siehe Seite 46).

Die Wohnung liegt im vierten Stock, man hat eine gute Aussicht auf das Marzahner Plattenbaupanorama. Und es gibt für Mahmoud Mottaweh und seine Familie auch eine Zukunftsaussicht: Sie haben gute Chancen, als Flüchtlinge anerkannt zu werden.

Für Mitra Jovanović* ist Mahmoud Mottaweh aus Damaskus damit ein reicher Mann. Fröstelnd steht die Roma aus dem serbischen Leskovac an einer Bushaltestelle im Norden von Pankow, die sie als Treffpunkt vorgeschlagen hat. Ihr Sehnsuchtsort: ein paar Qua­dratmeter Heimplatz, ein eigenes Bett. Doch dazu müsste Mitra Jovanović einen Asylantrag stellen. 3,9 Monate dauert laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge derzeit im Durchschnitt die Bearbeitung eines Asylantrags aus Serbien. 0,1 Prozent dieser Anträge werden positiv beschieden. Würde Mitra Jovanović einen Asylantrag stellen, hätte sie für etwa vier Monate einen Heimplatz – ohne Zukunftsaussichten.

Wer in Deutschland Asyl bekommen will, muss nachweisen können, dass er in seinem Heimatland als Teil einer gesellschaftlichen Gruppe, einer Religionsgemeinschaft etwa oder einer Ethnie, systematisch und „zielgerichtet“ verfolgt wird (siehe Infokasten). Das trifft nach der derzeitigen Auslegung des Asylrechts auf beinahe alle syrischen Flüchtlinge zu, die hier nach der Genfer Flüchtlingskonvention Schutz suchen und bekommen: vor der Verfolgung durch die Terrormiliz Islamischer Staat, vor den Truppen von Machthaber Baschar al-Assad, der die eigene Bevölkerung seit beinahe fünf Jahren bombardiert.

Die systematische Ausgrenzung der Roma auf dem Balkan wird hingegen nicht als hinreichender Fluchtgrund anerkannt. Sie flüchten „nur“ vor Armut. Auch wenn die Ursachen ihrer Perspektivlosigkeit die gleichen sind wie bei vielen Flüchtlingen, die nicht aus einem sogenannten sicheren Herkunftsland kommen: Diskriminierung, Verfolgung, weil sie der „falschen“ Minderheit angehören.

Die Chancen, die das Asylrecht den Mottawehs und den Jovanovićs einräumt, könnten damit unterschiedlicher nicht sein. Welche Auswirkungen hat das auf den Alltag der Familien? Auf den Versuch, hier eine Wohnung zu finden und einen Schulplatz für die Kinder? Auf ganz banale Dinge, wie den Gang zum Arzt und zum Supermarkt?

Belege fürs Amt

Eine Kanzlei am Landwehrkanal in Kreuzberg. Genervt knallt Anwältin Berenice Böhlo einen Stapel Akten auf den überladenen Schreibtisch. „Sie müssen das verstehen!“, herrscht sie Mitra Jovanović und ihre Tochter ­Maria* an. „Sie können jetzt wieder einen Asylantrag stellen, tun Sie das, dann haben Sie sofort einen Heimplatz. Aber dann sind Sie auch ganz sicher in ein paar Wochen wieder in Serbien.“ Betreten schauen Mutter und Tochter auf ihre Schuhspitzen.

„Wir verstehen“, sagt Maria leise, die recht gut Deutsch spricht. Die 14-Jährige ist hier insgesamt etwa drei Jahre zur Schule gegangen – es ist schon ihr dritter Anlauf, in Deutschland Asyl zu bekommen. Das Mädchen berät sich leise auf Serbisch mit seiner Mutter. „Meine Mutter sagt: Wir können nicht mehr lange bei unseren Verwandten wohnen, die Wohnung ist zu klein. Wir haben kein BVG-Ticket, wir haben kein Geld für Essen“, erklärt sie schließlich resigniert der Anwältin.

Böhlo, Expertin für Aufenthaltsrecht, fährt sich durch die kurzen Haare und starrt auf die lose Sammlung aus DIN-A4-Blättern, auf denen Maria in runder, sauberer Mädchenschreibschrift ausgeführt hat, warum „alles besser ist als Serbien“, wie sie sagt. „Ich brauche Zeit, da­raus einen begründeten Asylantrag zu formulieren“, sagt Böhlo schließlich an Marias Mutter gewandt und seufzt. „Wenn Sie dem Bundesamt bloß erzählen, dass sie in Serbien keine Sozialhilfe bekommen oder die Lehrer Ihre Tochter diskriminieren und dafür keine Belege haben, dann gähnen die und sagen ‚Danke schön‘ und ‚Abgelehnt‘.“

Bei Flüchtlingen aus sicheren Herkunftsländern – seit November 2014 gilt dieser Status auch für Serbien – wird grundsätzlich vermutet, dass sie nicht verfolgt werden. „Also müssen wir in jedem Einzelfall nachweisen, dass dem doch so ist“, erklärt Böhlo ein paar Tage später am Telefon. Besonders oft scheint das allerdings nicht zu klappen: 99,9 Prozent aller Asylanträge aus Serbien werden laut zuständigem Bundesamt abgelehnt. Im Fall von Maria und ihrer Familie ist Böhlo aber „verhalten optimistisch“, wie sie sagt. „Sie haben ihren Fall recht gut dokumentiert.“

Wie viele Balkanflüchtlinge sich derzeit unregistriert oder trotz Aufforderung zur Ausreise in Deutschland aufhalten, weiß das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht. Sie sind praktisch unsichtbar.

Mahmoud Mottaweh hat das umgekehrte Problem. Die Fingerabdrücke, die er und seine Familie in Italien abgeben mussten, als sie von der Küstenpolizei aus dem Mittelmeer gerettet wurden, bereiten ihm Sorgen. Seit Ende Oktober gilt auch für syrische Flüchtlinge in Deutschland wieder das Dublin-Verfahren: Sie müssen ihren Asylantrag in dem EU-Land stellen, in dem sie zuerst registriert wurden. Das Bundesamt prüft allerdings „einzelfallbezogen“, kann also auch anders entscheiden.

Nach Italien wollen die Mottawehs auf gar keinen Fall zurück. Dort gebe es keine Arbeit, keine Hilfe für Flüchtlinge, keine Per­spek­tive für die Familie. Die Kinder müssten endlich zur Ruhe kommen, sagt Salwa Kamel. Der Große frage jeden Tag, ob sie nun „endlich da“ seien.

Sie sind da, am Ziel sind sie noch nicht. Das Warten mache alle mürbe, sagt Vater Mahmoud Mottaweh. Selbst einen Termin beim Bundesamt, wo sie ihren Asylantrag stellen können, haben sie noch nicht: Wartezeiten von mehreren Monaten für den „Termin zur Aktenanlage“ sind derzeit die Regel. Über 360.000 Asylanträge wurden laut Bundesamtsstatistik in diesem Jahr bis Ende Oktober gestellt – 2014 waren es noch knapp 160.000.

Solange Familie Mottaweh nur „erstregistriert“ ist – der Asylantrag also noch nicht gestellt ist – gibt es lediglich einen Platz in einem Erstaufnahmeheim, 143 Euro Taschengeld im Monat und den Berlin-Pass, mit dem man ein vergünstigtes BVG-Ticket bekommt. Immerhin: Mit der Fahrkarte kann man zum Supermarkt fahren, mit dem Geld vom Amt kann man dort einkaufen. Die Kaubonbons etwa, die der sechsjährige Omar großzügig an seine Geschwister verteilt.

Deutsch lernen

Selbstverständlichkeiten, die für Familie Jovanović keine sind. Sie bleiben auf das Wohlwollen der Verwandten angewiesen, die mit ihnen ihr Essen teilen. Im Bus hoffen sie einfach, nicht beim Schwarzfahren erwischt zu werden.

Für drei Kinder der Mottawehs, für Mohamad Loui, Obai und Omar, gehört es inzwischen auch zum Alltag, dass sie jeden Morgen mit der Straßenbahn zur Adam-Ries-Grundschule fahren. Dort lernen sie seit drei Monaten Deutsch in einer Willkommensklasse. Die Sozialarbeiter im Heim haben sie angemeldet.

Maria Jovanović und ihren elfjährigen Bruder Jagos* meldet hingegen niemand in einer Schule an. Zweimal ist Maria morgens zu ihrer alten Schule in Neukölln gefahren, wo sie letztes Jahr in eine Deutschlerngruppe ging. Beim zweiten Mal erklärte ihr die Lehrerin, sie könne sich nicht einfach so in den Unterricht setzen. Das Schulamt Neukölln sagt, die Lerngruppen an der Schule seien voll.

Die Mottawehs haben sich inzwischen damit abgefunden, wohl auch den Winter noch im Erstaufnahmeheim zu verbringen – in ein Wohnheim oder gar eine richtige Wohnung wird man vom Amt erst als offizieller Asylbewerber vermittelt. Dem 23,99-Quadratmeter-Zimmer in der Rhinstraße haben die Mottawehs inzwischen beinahe so etwas wie Gemütlichkeit abgerungen. Plastikblumen in PET-Flaschen bringen etwas Farbe in den Raum.

Omar hat zudem ein Poster von den Minions an die Wand geklebt: kleine, gelbe Superhelden aus einem Animationsfilm. Er und sein ein Jahr älterer Bruder Obai sind große Fans. Den neuen Film haben sie nicht gesehen. Der Vater deutet auf den Rekorder in der Zimmerecke. Der könne nur Videos abspielen, neue Filme gibt es aber schon seit Jahren nicht mehr auf Videokassette. Zudem ist der Rekorder kaputt: Mahmoud schüttelt ihn, es klappert, ein Fläschchen Make-up fällt heraus. Er lacht.

„Alma!“, mahnt Mahmoud Mottaweh. Die Dreijährige guckt kein bisschen schuldbewusst. Sie ist die Prinzessin der Familie, darf ihrem Vater nach Belieben auf den Schultern herumturnen. Mit dem Familientablet liegt sie auf dem Bett und schaut einen Zeichentrickfilm. Ihr Bruder ist eigentlich mal an der Reihe, aber er wartet geduldig. Die vier Geschwister gehen erstaunlich vorsichtig miteinander um. Streit ist anstrengend, wenn man sich kaum aus dem Weg gehen kann.

Mahmoud Mottaweh will bei der Wohnungssuche nicht länger auf die Behörden warten. 763 Euro Bruttokaltmiete darf eine Wohnung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz kosten. Der 34-Jährige blättert durch Wohnungsanzeigen, die er sich aus dem Internet ausgedruckt hat: „Schöne, helle 5-Zimmer-Wohnung im Herzen von Marzahn“, heißt es da. Doch als ein Dolmetscher für ihn bei der Hausverwaltung anrief, habe die gleich wieder aufgelegt, als das Wort „Flüchtlinge“ fiel, erzählt er.

Es wird für die Mottawehs nicht leicht werden, eine eigene Wohnung zu finden. Damit geht es ihnen aber immer noch besser als den Jovanović. Die können sich noch nicht mal auf die Suche machen.

Mitra und Maria Jovanović wollen nicht, dass man erfährt, wo sie derzeit untergekommen sind. Der Vermieter der Cousine aus Leskovac, bei der sie wohnen, könnte ihren Verwandten Ärger machen, sagt Maria. Also gibt es Kaffee in der Bäckerei eines Discounters. Maria sieht erschöpft aus. Seit dem Besuch im Büro der Rechtsanwältin hat sich nichts getan: Die Cousine drängt sie zum Auszug, die Anwältin sagt, sie brauche noch Zeit.

Marias Augenlid zuckt. Es zuckt ständig, alle fünf Minuten sieht sie ihre Umgebung mit dem linken Auge nur noch verschwommen. Im März 2012, da waren sie als registrierte Asylbewerber in Deutschland, wurde in der Charité eine teilweise Lähmung ihres Gesichtsnervs festgestellt. Eine Entzündung, eine Viruserkrankung wie Windpocken könne den Nerv angegriffen haben. Nichts Dramatisches, mit ein bisschen Physiotherapie leicht in den Griff zu bekommen, schreiben die Ärzte im Entlassungsbrief.

Drei Jahre und zwei Ausweisungen später zuckt das Augenlid immer noch. Maria hat keine Krankenversicherung, sie ist ja nicht registriert. In Serbien erhält sie keine Behandlung, in Deutschland kann sie auch nicht zum Arzt. Unter dem Radar der Behörden durchzuschlüpfen heißt keine Hilfe zu bekommen.

Die Geburt naht

Eine kleine grüne Chipkarte entscheidet darüber, ob sich die Türen der Arztpraxen öffnen. Das zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales hat Salwa Kamel die Grüne Karte gleich bis Februar ausgestellt. Dann wird Almas Schwester auf der Welt sein. Elif soll sie heißen, im Januar ist Geburtstermin. Salwa Kamel hat Schwangerschaftsdiabetes und zu hohen Blutdruck. Alle fünf Tage fährt die 31-Jährige quer durch die Stadt zur Hermannstraße nach Neukölln. Ein weiter Weg mit dem großen Bauch. „Egal“, sagt sie. „Ich wollte einen Arzt, der Arabisch spricht.“

Mahmoud Mottaweh legt einen Zettel mit einer Telefonnummer neben die anderen Immobilienanzeigen. Frag dort mal wegen einer Wohnung, hat ihm eine Familie aus dem Heim geraten. Mahmoud will gleich morgen früh anrufen.

* Namen geändert

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!