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starke gefühleWir ertragen eine unerträg­liche Welt. Sie zu begreifen, wird immer schwieriger

Genau genommen ist es eine Lüge, dass die Welt in ihrem derzeitigen Zustand unerträglich ist. Ich ertrage sie schließlich – die russischen Luftangriffe auf Kyjiw, die brennenden Zeltlager in Gaza, die Hungersnot in Sudan.

An einem durchschnittlichen Werktag im Juni 2025 lauten die Nachrichten: Iranische Rakete trifft israelisches Krankenhaus, Israel greift iranische Atomanlage an, Putin warnt Deutschland vor Taurus-Lieferungen an die Ukraine, bei der Verteilung von Hilfsgütern in Gaza erschießen israelische Soldaten Zivilisten, heute meist sonnig bei 24 Grad. Im Internet teilen mehr oder weniger Betroffene ihre Wut, ihre Angst und ihre gebrochenen Herzen. Ständig beklagt jemand „ohrenbetäubendes Schweigen“. An einem durchschnittlichen Werktag betrachte ich das Leid der Einen und der Anderen, abwechselnd, in 12- bis 20-sekündigen Videos. Ich soll auf eine Demo gehen, ich soll mich solidarisch zeigen. Ich soll irgendwo Zionisten hassen und wäre irgendwo anders Antisemitin, wenn ich Netanjahu einen Völkermord unterstellen würde. Zwischendurch trinke ich Cappuccino. Manchmal klicke ich auf einen Spendenlink.

Mir ist die Welt unbegreiflich geworden in einem Ausmaß, mit dem ich nicht umzugehen weiß. Früher habe ich aufgeschrieben, was ich nicht fassen konnte. Meistens ergab es hinterher mindestens ein bisschen Sinn. Aber Krieg an sich ist nun mal sinnlos, obwohl man im ganz realen Kriegszustand natürlich sinnvollere oder weniger sinnvolle Entscheidungen treffen kann. Im Angesicht dieser Umstände und der fortschreitenden Trumpisierung werden meine sinnsuchenden Worte allerdings zu Brei. Manchmal denke ich, ich müsste trotzdem etwas tun – wenigstens schreiben, dass das Völkerrecht über dem Recht des Stärkeren steht. Dass Krieg kein Tennisturnier ist und kein Mensch ein Kollateralschaden. Dass wir alle noch mal Susan Sontag lesen sollten, um zu lernen, was es mit uns macht, ständig all dieses Leid anzusehen. Aber meistens fürchte ich, dass eine politische Autorin, die etwas anderes will, als Recht haben, in diesen Zeiten eigentlich nur scheitern kann.

Die meisten von uns ertragen das Unerträgliche seit Monaten aus der zweiten oder dritten Reihe. Obwohl der Krieg unheimlich nahe rückt, ist er doch nicht wirklich hier. Ich kauere nicht in Luftschutzbunkern, ich kann Raketen und Flugabwehrgeschosse nicht am Klang unterscheiden, ich verliere keine Häuser, keine Verwandten und keine Gliedmaßen. Folglich, so werfe ich es mir regelmäßig vor, müsste ich ihm und all den Menschen in der ersten Reihe doch wenigstens meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Aber ich will nichts mehr wissen vom Krieg, vom Sondervermögen, von Wehrpflicht, von Haubitzen. Es ist mir egal, welcher 55-jährige Politiker heute sofort für sein Land kämpfen würde, und ich habe keine Lust, militärstrategische Debatten zu lesen, die katastrophengeil über den nächsten Schachzug von Kriegspartei A und B spekulieren, als handelte es sich um das Staffelfinale einer Netflix-Serie. Ich will nicht teilhaben an der humanitären und moralischen Entgrenzung, auch nicht indem ich pausenlos gegen sie protestiere. Aber einfach aufgeben und nichts tun, will ich auch nicht.

Das gegenwärtige Dilemma des Menschseins lautet: Wer zu lange hinsieht, wird stumpf. Wer zu lange wegsieht, wird kalt. Also hängen wir im Limbo dazwischen, setzen die Nachrichtendosis mal rauf, mal runter, fühlen uns wahlweise hilflos, unnütz, ungenügend.

Das gegenwärtige Dilemma des Menschseins lautet: Wer zu lange hinsieht, wird stumpf. Wer zu lange wegsieht, wird kalt

Ich weiß, dass ich mit diesem Gefühl nicht alleine bin. Viele, deren politische Gedanken ich in den vergangenen Jahren geschätzt habe, sind gerade relativ still. Ich denke nicht, dass sie plötzlich alle unpolitisch geworden sind. Ich stelle mir vor, dass sie nachdenken, bevor sie schreiben und sprechen, dass sie sich Zeit nehmen und um Präzision bemühen wollen. Dass sie neue Räume bauen, in denen die Dinge wieder Sinn ergeben dürfen. Dass manche Workshops in Schulen geben oder im Orchester spielen, dass sie Kunst, Politik oder einfach mal Pause machen. Darüber wäre ich froh. Es würde bedeuten, dass sie sich erhalten, sie selbst zu sein.

Vielleicht brauchen wir ja genau diese Teile von uns, damit so etwas wie Frieden überhaupt vorstellbar bleibt. Lin Hierse

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