piwik no script img

schlaglochZu Besuch bei Dr. Robot

Jung, brillant, empathielos: Als ich Patient bei einer Jungärztin wurde

Foto: dpa

IlijaTrojanow

ist Schriftsteller, Weltensammler und Autor zahlreicher Bücher, darunter: „Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren“ (Residenz Verlag, 2013) und „Macht und Widerstand“ (S. Fischer Verlag). Ende Mai erschien, ebenfalls bei S. Fischer, „Nach der Flucht“.

Neulich musste ich einen Tag in der Notaufnahme eines großen Krankenhauses in einer deutschen Großstadt verbringen. Genauer gesagt, einen Freitagnachmittag. Ich fuhr wegen heftiger Brustschmerzen und Übelkeit und Atemnot mit dem Taxi hin, worauf ich als Erstes gerügt wurde, ich hätte den Rettungsdienst rufen müssen. Ich wies darauf hin, dass ich mich gut auf den Beinen halten könne und der Krankenwagen vielleicht eher gebraucht werde für die blutenden Opfer eines Verkehrsunfalls. Zumal es mit dem Taxi ja auch viel schneller gegangen war.

Das Krankenhaus war brandneu und freundlich eingerichtet, die Gänge waren lichtdurchflutet, die Wände farblich dezent aufgepeppt. Man hätte sich fast wohlfühlen können. Auch die Krankenschwestern waren beeindruckend. Schon die erste, die sich meiner annahm, von jenem erfrischenden Typus burschikoser Anteilnahme, verkündete resolut, entweder hätte ich es am Herz oder an der Lunge, oder aber ich sei eine Memme. „Ich habe vergessen Ihnen auszurichten, dass ich keine Memme bin“, antwortete ich. Sie grinste, um mir zu vermitteln: Mir können Sie alles sagen, aber ich glaube Ihnen nichts.

In scheinbar nebensächlicher Unterhaltung entlockte sie mir Details über meinen Lebenswandel (verschleppte Grippe, Stress), während sie mich ans EKG anschloss und mir Blut abnahm. Es würde lange dauern, sagte sie mir, bis zu fünf oder sechs Stunden, doch das klang nicht wie eine Drohung, sondern vielmehr wie ein Privileg, das mir zuteil werden würde, weil ich mich – das deutete sie mehrfach an – nicht genug um mich selbst gekümmert habe.

Die Schmerzen waren immer noch stark, doch ich fühlte mich geborgen. Bis die Ärztin auftauchte. Sie murmelte Unverständliches (ich vermute ihren Namen), sie reichte mir eine labberig-schlaffe Hand, die meine flüchtig und unwillig berührte, wie die eines Fremden in einer vollen U-Bahn. Die Ärztin (Assistenzärztin, um präzise zu sein) war jung, sehr jung, sie sah aus wie Mitte zwanzig, vielleicht täuschte der Eindruck ein wenig. Ihre medizinische Kompetenz kann ich nicht beurteilen, eher schon ihre soziale Kompetenz. Sie blickte mir kein einziges Mal in die Augen. Sie sprach derart entrückt zu mir, dass ich das Gefühl hatte, sie würde über Siri mit mir kommunizieren. Abgesehen von anatomischen Detailfragen unterhielt sie sich nicht mit mir. Es wirkte so, als würde sie einen vorgegebenen Fragebogen abarbeiten, ohne je von diesem abzuweichen. Sie kommentierte meine Antworten nicht, sie fragte nicht nach. Sie ließ mich zum Röntgen bringen.

Nach der Röntgenaufnahme wurde ich in einem kargen Zwischenraum vergessen, was völlig verständlich ist, immerhin werden in einer Notaufnahme auch Heimhandwerker eingeliefert, die sich einen Arm abgesägt haben. Nach einiger Zeit erkundigte sich eine weitere nette Krankenschwester nach meinem Wohlergehen. Sie entschuldigte sich dafür, dass ich stehen gelassen worden war und rollte mich zurück ins Besprechungszimmer. Auf dem Weg durch die Gänge erzählte sie mir von den vielen Menschen, die die Notaufnahme aufgrund vergleichsweise kleiner Wehwehchen aufsuchten, Kopfschmerzen etwa oder verstauchter Knöchel. Auf einmal verstand ich den Hinweis ihrer Kollegin auf die Option „Memme“.

Die Ärztin kehrte zurück, betrachtete die Röntgenaufnahme und die Ergebnisse der anderen Untersuchungen, dann rief sie Unterstützung herbei, einen blonden Dreißigjährigen mit dem Habitus eines Professors aus einer amerikanischen Screwball Comedy, der mich auf mein leutseliges „Guten Tag“ hin unwillig grüßte, bevor er konspirativ mit der Ärztin flüsterte und bald darauf entschwand. Später sollte ich erfahren, dass es sich bei diesem Kittelträger um einen Radiologen gehandelt hatte. Die Ärztin tippte auf der Tastatur ihres Computers herum. „Geh ich recht in der Annahme“, fragte ich irgendwann ungeduldig, „dass Sie ratlos sind.“ „Richtig“, antwortete sie. Dann telefonierte sie mit dem Chefarzt (wie ich vermute), bevor sie mich in die baldige Obhut meines Hausarztes entließ. Auf meine Bitte nach einem Schmerzmittel (immerhin stand mir eine mehrstündige Zugfahrt mit zweimaligem Umsteigen bevor), sagte sie leicht süffisant: „Tut es denn so weh?“

Als ich meine Erfahrungen tags darauf einem alten Freund, heute Chefchirurg in einem renommierten Krankenhaus, mitteilte, antwortete er zu meiner Überraschung: „Das liegt am Numerus Clausus. Das Problem haben wir bei jedem Einstellungsgespräch. Fachlich gut, aber wie bringen wir ihnen den Umgang mit den Patienten bei?“ Er erzählte mir von einem Mädchen in seiner Stadt, die trotz eines Notendurchschnitts von 1,0 keinen Studienplatz für Medizin erhalten habe. Wer einen schlechteren Durchschnitt habe, der müsse jahrelang warten. Kein Wunder, dass das Bundesverfassungsgericht gerade dabei ist, diese Regelung zu prüfen.

Jeder, der eine größere Anzahl von Einser-Abiturienten kennt (etwa durch die Studienstiftung des deutschen Volkes, wo solche Talente einen Extraschliff erhalten), weiß von ihrer oftmals etwas autistischen Wesensart. Sie sind erfolgreiche Absolventen eines Schulsystems, dass zunehmend weniger Kreativität fördert, sondern nur systematisches Lernen. Wie also jemand auf die Idee kommen konnte, dass die Fähigkeit zum Pauken das einzige Kriterium für die Wahl zukünftiger Ärzte sein soll, ist mehr als unverständlich.

Dies ist besonders bemerkenswert in einer Welt der zunehmenden Automatisierung. Je mehr wir uns auf die Technik verlassen, desto eher müssten wir spezifisch menschliche Fähigkeiten wie Empathie, Kommunikation und Instinkt als komplementäre Kompetenzen fördern und einsetzen. Wer Angst davor hat, bald einen Dr. Robot aufsuchen zu müssen, der sollte sich ebenso vor den funktionalen Technokraten der Medizin hüten. Heilen ist so viel mehr als nur das Richtige verschreiben. „M.M.M.M.“ lautet ein beliebter, vielseitig verwendbarer Spruch unserer Zeit: Menschen muss man mögen. „A.A.A.“ – Ärzte allerdings auch.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen